Wie unser Gehirn Eindrücke verrechnet
Wenn unser Gehirn verschiedene Sinnesreize miteinander verrechnet, verliert es unter Umständen die Information über die einzelnen Komponenten (Sinnesreize) aus denen sich die Wahrnehmung zusammensetzt.
Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen, der University of California Berkeley und der New York University haben herausgefunden, dass dieser Verlust eintritt, wenn verschiedene visuelle Signale kombiniert werden. Dagegen lassen sich Informationen, die von unterschiedlichen Sinnen kommen, wie dem Tast- und dem Sehsinn, nach wie vor wieder in ihre Einzelkomponenten zerlegen.
Um sich ein Bild von der Welt zu machen, verarbeitet unser Gehirn alle Informationen, die ihm über die Sinnesorgane zur Verfügung gestellt werden. Wie in einem Puzzle-Spiel setzt es die einzelnen Teilinformationen, die wir dabei von einem Objekt erhalten, zu einem Gesamtbild zusammen. Diesem Zusammensetzen liegt ein komplexer Verrechnungsprozess zu Grunde: Schon innerhalb einer Sinnesmodalität, also etwa dem Sehen, stehen mehrere Einzelsignale zur Verrechnung an. So geben zum Beispiel perspektivische Verzerrungen, stereoskopische Signale, Schattierungen und auch Verdeckungen Aufschluss über die räumliche Struktur eines Objektes. Hinzu kommen noch weitere Informationen – wie sie Hör- oder Tastsinn liefern – die das Gehirn ebenfalls einbezieht. Dadurch entsteht schließlich in unserem Bewusstsein eine komplexe Objektwahrnehmung.
Dass das Gehirn bei diesen Verknüpfungen die Sinnesdaten nicht blind zusammenwürfelt, sondern statistisch optimal verrechnet, hatten Max-Planck-Forscher Marc Ernst aus Tübingen und Martin Banks von der University of California in Berkeley bereits Anfang dieses Jahres nachgewiesen (vgl. PRI B 2 / 2002 (5)). In ihrer neuesten Studie versuchen die beiden Forscher zusammen mit James Hillis von der University of Pennsylvania in Philadelphia und Michael Landy von der New York University herauszufinden, welche Folgen dieses statistisch optimierte Verhalten des Gehirns außerdem hat.
Überblendet man rotes mit grünem Scheinwerferlicht, so nimmt der Betrachter lediglich gelbes Licht wahr. Er kann auf dieser Ebene nicht mehr zwischen zusammengesetztem Gelb und monochromatischem Gelb unterscheiden. Die Forscher bezeichnen solche physikalisch unterschiedlichen Reize, die zur selben Wahrnehmung führen, als Metamere. Farb-Metamere sind also ein Beispiel für einen Verarbeitungsmechanismus, dessen Wahrnehmungsergebnis vom Betrachter nicht mehr in seine ursprünglichen Komponenten zerlegt werden kann – unser Gehirn erlaubt uns keinen Zugriff mehr auf die ursprüngliche rot-grün Information. Eine interessante Frage für die Wissenschaftler lautet nun, ob das Gehirn nach Zusammenführen räumlicher Informationen noch in der Lage ist, auf die einzelnen Sinnesinformationen zuzugreifen oder ob diese Informationen ebenfalls – wie im Beispiel des gelben Lichts – beim Verrechnungsvorgang verloren gehen. Verkürzt lautet die Frage also: Gibt es neben den Farb-Metameren auch so etwas wie Metamere der räumlichen Wahrnehmung?
Um diese Frage zu beantworten, führten die Forscher zwei Experimente zur räumlichen Wahrnehmung durch. Im ersten Experiment mussten die Versuchspersonen die Größe eines Balkens schätzen und durften hierfür sowohl ihren Seh- als auch ihren Tastsinn einsetzen. Auf der Verrechnungsebene laufen also „gesehene“ und „gefühlte“ Größeninformationen ein. Im zweiten Experiment sollten die Versuchspersonen die Neigung einer Fläche abschätzen; diese Aufgabe war jedoch ausschließlich visuell zu lösen. Auch die Neigung der Fläche wurde über zwei Komponenten erfasst – hier aber über zwei ausschließlich visuelle Komponenten, dem perspektivischen und dem stereoskopischen Sehen. In jeweils beiden Experimenten konnten die Wissenschaftler die einzelnen Komponenten getrennt voneinander manipulieren.
Die Versuchspersonen sollten nun zwischen Objekten (Balken bzw. geneigte Flächen) unterscheiden, die aus diesen Komponenten mit jeweils unterschiedlichem Betrag zusammengesetzt waren. Dabei setzten die Forscher einen Trick ein: Sie wählten den Betrag mit dem die einzelnen Komponenten quasi in die Verrechnung eingehen so, dass die Objekte im Ergebnis des Verrechnungsprozesses jeweils die gleiche Größe (Balken) bzw. die gleiche Neigung (Flächen) hatten. Sollte es den Versuchspersonen trotzdem nach wie vor möglich sein, die Objekte zu unterscheiden, wäre das der Beweis dafür, dass das Gehirn nach wie vor auf die Einzelinformationen zugreifen, die Objekte also quasi wieder in seine Komponenten zerlegen kann (gäbe es keine Farb-Metamere, so könnten wir also tatsächlich die rot / grün Information wieder herausfiltern).
Die beiden Experimente lieferten unterschiedliche Ergebnisse: Durften die Versuchspersonen sowohl ihren Seh- als auch ihren Tastsinn zu Hilfe nehmen, so waren sie problemlos in der Lage, eine Unterscheidung zwischen den Objekten zu treffen. Das heißt, es gibt keine Größen-Metameren. Visuelle und haptische Sinnesreize verschmelzen nicht miteinander – die Signale werden (anders als die rot-grün-Information) nach wie vor einzeln wahrgenommen. Das beobachten wir auch im Alltagsleben in Situationen, in denen Sehen und Fühlen verschiedene Informationen an das Gehirn weiterleiten – etwa, wenn man ein Objekt betastet und gleichzeitig ein anderes anschaut.
Im zweiten Experiment dagegen ging die Unterscheidungsfähigkeit verloren. Für stereoskopisches und perspektivisches Sehen, so die Schlussfolgerung der Wissenschaftler, existieren offensichtlich Metamere. Und auch das ist bei näherer Betrachtung durchaus sinnvoll, denn für das visuelle System kann es keine zwei Objekte an derselben Stelle geben. Ob sich dieser Effekt auch bei anderen Sinnen und Sinnesreizen nachweisen lässt, wollen die Forscher in weiteren Experimenten nun prüfen.
Weitere Auskünfte erteilt:
Dr. Marc O. Ernst
Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
Spemannstr. 38
72076 Tübingen
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Fax: 07071-601-616
E-Mail: marc.ernst@tuebingen.mpg.de
Rainer Rosenzweig
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