Stärkstes Biomaterial der Welt schlägt Stahl und Spinnenseide

Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme der fertigen Faser. Bild: Nitesh Mittal, KTH Stockholm

Das ultrastarke Material besteht aus Zellulose-Nanofasern (CNF), den „Grundbausteinen“ von Holz und anderen Pflanzen. Mit Hilfe einer neuen Produktionsmethode haben die Forscher erfolgreich die besonderen mechanischen Eigenschaften der Nanofasern auf ein makroskopisches Material übertragen, das sich außerdem durch sein geringes Gewicht auszeichnet und beispielsweise als umweltfreundliche Kunststoffalternative in Autos, für Möbel und in Flugzeugen Anwendung finden könnte. „Unser neues Material hat auch Potenzial für die Biomedizin, da Zellulose vom Körper nicht abgestoßen wird“, erläutert Söderberg.

Die Wissenschaftler nutzen kommerziell angebotene Zellulose-Nanofasern, die nur etwa 2 bis 5 Nanometer dünn und bis zu 700 Nanometer lang sind (ein Nanometer ist ein millionstel Millimeter). Die Nanofasern werden in Wasser durch einen dünnen, nur einen Millimeter breiten Kanal in einem Stahlblock geschickt. Dieser Kanal besitzt zwei Paare seitlicher Zuflüsse, durch die entionisertes Wasser sowie Wasser mit niedrigem pH-Wert einfließen. Dadurch wird der Strom der Nanofasern zusammengepresst und beschleunigt.

Diese sogenannte hydrodynamische Fokussierung sorgt dafür, dass sich die Nanofasern in der richtigen Orientierung ausrichten und sich von selbst zu einem eng gepackten Faden zusammenlagern. Die Nanofasern haften dabei ganz ohne Klebstoff oder irgendeine andere Zutat durch sogenannte supramolekulare Kräfte zusammen, die zwischen den Nanofasern wirken, beispielsweise elektrostatische und Van-der-Waals-Kräfte.

Im hellen Röntgenstrahl von PETRA III konnten die Forscher den Prozess im Detail verfolgen und optimieren. „Das Röntgenlicht erlaubt uns, die detaillierte Struktur des Fadens zu analysieren, während er entsteht. Das schließt sowohl die Materialstruktur ein als auch die hierarchische Ordnung in den superstarken Fasern“, erläutert Ko-Autor Stephan Roth, Leiter der Mikro- und Nanofokus-Messstation P03, an der die Fäden gesponnen wurden. „Wir haben Fäden von bis zu 15 Mikrometern Dicke und mehreren Metern Länge hergestellt“, berichtet Roth. Ein Mikrometer ist ein tausendstel Millimeter. Die Fäden lassen sich den Forschern zufolge auch in größerer Dicke fertigen.

Die Untersuchung zeigte eine Biegesteifigkeit des Materials von 86 Gigapascal und eine Zugfestigkeit von 1,57 Gigapascal. „Die von uns hergestellten biobasierten Nanozellulosefäden sind achtmal steifer und einige Male zugfester als die Abseilfäden aus natürlicher Spinnenseide“, betont Söderberg. „Wenn man ein biobasiertes Material sucht, gibt es nichts wirklich Vergleichbares.

Es ist auch stärker als Stahl und alle anderen Metalle oder Legierungen sowie als Fiberglas und die meisten anderen synthetischen Materialien.“ Die künstlich hergestellten Zellulosefäden lassen sich etwa zu einem Stoff für verschiedenste Anwendungen weben. Die Forscher schätzen, dass die Produktionskosten des neuen Materials dabei mit denen besonders fester synthetischer Stoffe konkurrieren können. „Aus dem neuen Material lassen sich im Prinzip biologisch abbaubare Bauteile entwickeln“, ergänzt Roth.

Die in der Untersuchung beschriebene neue Methode ahmt die Fähigkeit der Natur nach, Zellulose-Nanofasern zu nahezu perfekten makroskopischen Anordnungen zu arrangieren, wie etwa in Holz. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, ein Material aus Nanofasern zu entwickeln, das sich für größere Werkstücke nutzen lässt, und dabei die Zugfestigkeit und die mechanische Belastbarkeit der Nanofasern zu erhalten.

„Wir können jetzt die überragende Leistung aus dem Nanokosmos in den Makrokosmos übertragen“, betont Söderberg. „Ermöglicht hat diese Entdeckung dadurch, dass wir gelernt haben, die fundamentalen Schlüsselparameter für die perfekte Nanostrukturierung wie beispielsweise Partikelgröße, Wechselwirkungen, Ausrichtung, Ausbreitung, Netzwerkbildung und Gruppierung zu verstehen und zu kontrollieren.“ Der Prozess kann den Wissenschaftlern zufolge auch benutzt werden, um beispielsweise die Gruppierung von Kohlenstoff-Nanoröhrchen oder anderen Nanofasern zu steuern.

An der Arbeit waren die KTH Stockholm, die Stanford-Universität, das schwedische Forschungsinstitut RISE Bioeconomy, die Universität von Michigan und DESY beteiligt.

DESY zählt zu den weltweit führenden Beschleunigerzentren und erforscht die Struktur und Funktion von Materie – vom Wechselspiel kleinster Elementarteilchen, dem Verhalten neuartiger Nanowerkstoffe und lebenswichtiger Biomoleküle bis hin zu den großen Rätseln des Universums.

Die Teilchenbeschleuniger und die Nachweisinstrumente, die DESY an seinen Standorten in Hamburg und Zeuthen entwickelt und baut, sind einzigartige Werkzeuge für die Forschung. DESY ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent von den Ländern Hamburg und Brandenburg finanziert.

Originalveröffentlichung
Multiscale Control of Nanocellulose Assembly: Transferring Remarkable Nanoscale Fibril Mechanics to Macroscale Fibers; Nitesh Mittal, Farhan Ansari, Krishne Gowda.V, Christophe Brouzet, Pan Chen, Per Tomas Larsson, Stephan V. Roth, Fredrik Lundell, Lars Wågberg, Nicholas A. Kotov, and L. Daniel Söderberg; „ACS Nano”, 2018; DOI: 10.1021/acsnano.8b0108

https://www.desy.de/e409/e116959/index_ger.html?openDirectAnchor=1406&two_co… – Pressemitteilung im Web
https://pubs.acs.org/doi/10.1021/acsnano.8b01084 – Originalarbeit

Media Contact

Dr. Thomas Zoufal idw - Informationsdienst Wissenschaft

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Materialwissenschaften

Die Materialwissenschaft bezeichnet eine Wissenschaft, die sich mit der Erforschung – d. h. der Entwicklung, der Herstellung und Verarbeitung – von Materialien und Werkstoffen beschäftigt. Biologische oder medizinische Facetten gewinnen in der modernen Ausrichtung zunehmend an Gewicht.

Der innovations report bietet Ihnen hierzu interessante Artikel über die Materialentwicklung und deren Anwendungen, sowie über die Struktur und Eigenschaften neuer Werkstoffe.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Sensoren für „Ladezustand“ biologischer Zellen

Ein Team um den Pflanzenbiotechnologen Prof. Dr. Markus Schwarzländer von der Universität Münster und den Biochemiker Prof. Dr. Bruce Morgan von der Universität des Saarlandes hat Biosensoren entwickelt, mit denen…

3D-Tumormodelle für Bauchspeicheldrüsenkrebsforschung an der Universität Halle

Organoide, Innovation und Hoffnung

Transformation der Therapie von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bauchspeicheldrüsenkrebs (Pankreaskarzinom) bleibt eine der schwierigsten Krebsarten, die es zu behandeln gilt, was weltweite Bemühungen zur Erforschung neuer therapeutischer Ansätze anspornt. Eine solche bahnbrechende Initiative…

Leuchtende Zellkerne geben Schlüsselgene preis

Bonner Forscher zeigen, wie Gene, die für Krankheiten relevant sind, leichter identifiziert werden können. Die Identifizierung von Genen, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind, ist eine der großen…