Pharmakogenetik und Pharmakogenomik – Schlüssel zur individualisierten Medizin?

In klinischen Untersuchungen werden neue Medikamente an großen Patientengruppen getestet. Dabei kommt es immer wieder vor, dass manche Patienten überhaupt nicht auf die angewendete Medikation ansprechen oder es sogar zu Nebenwirkungen kommt. Den Grund dafür sehen Wissenschaftler in der genetischen Variabilität der Patienten.

Mit dieser Fragestellung beschäftigten sich zwei Fachgebiete, die so genannte Pharmakogenetik und die Pharmakogenomik. Sie spielen bei der Entwicklung neuer patientengerechter Arzneimittel und Therapien eine immer größere Rolle. Dabei untersucht die Pharmakogenetik die Unterschiede des individuellen Ansprechens auf Arzneimittel aufgrund erblich bedingter Faktoren, vor allem in der klinischen Praxis. Die Pharmakogenomik widmet sich mehr der Erforschung neuer Wirkstoffe im Labor und versucht zu klären, welche Genunterschiede für den unterschiedlichen Abbau von Medikamenten oder für deren unterschiedliche Wirkung in verschiedenen Patienten verantwortlich sind.

In einem Workshop im Rahmen des Berlin-Buch Congress on Biotechnology 2003 im Max Delbrück Communications Center (MDC.C) diskutierten Wissenschaftler aus Universität und Pharmaindustrie, darunter der Pharmakologe Prof. Ivar Roots von der Charité (Humboldt-Universität zu Berlin), Prof. Andres Metspalu von der Universität Tartu (Estland) und Prof. Thomas Weihrauch (Bayer AG, Wupper-tal) Möglichkeiten und Grenzen der Pharmakogenomik und Pharmakogenetik.

„Bisher werden Krankheiten nach den erfassten Anzeichen und Symptomen diagnostiziert, dem so genannten Phänotyp. In einigen Fällen können ähnliche Symptome jedoch auf verschiedene Grundmecha-nismen zurückgehen, oder Krankheiten, die nach den Symptomen zu urteilen, verschieden erscheinen, ähnliche Grundmechanismen aufweisen“, erläuterte Prof. Weihrauch. So lassen sich beispielsweise verschiedene Formen der Alzheimer- und ähnlicher Erkrankungen unterscheiden.

Es gibt viele verschiedene Faktoren, die für die individuelle Ansprechbarkeit auf eine bestimmte Arzneimitteltherapie verantwortlich sind. Einige dieser Faktoren sind persönliche Merkmale wie Alter, Geschlecht, Größe und Gewicht des Patienten. Begleitende Krankheiten (Leber- und/oder Nierenversagen) sowie persönliche Gewohnheiten wie Alkoholkonsum, Ernährung und Rauchen spielen ebenso eine Rolle. Diese Faktoren werden vor einer Behandlung vom Arzt immer erfragt und entsprechend berücksichtigt.

Einen weit größeren Einfluss auf die Sicherheit und den Erfolg der Behandlung haben aber die genetischen Variationen des Patienten, meinten die Wissenschaftler. Verantwortlich dafür, dass Wirkstoffe bei verschiedenen Patienten unterschiedlich gut aufgenommen, abgebaut und vertragen werden, sind geringfügige individuelle Abweichungen der DNA, die häufig im Erbgut des Menschen vorkommen, in der Fachsprache als SNPs (single nucleotide polymorphism) bezeichnet. Ihnen ist Prof. Metspalu mit dem „Estnischen Genomprojekt“ auf der Spur, das jetzt im März 2003 nach einer mehrmonatigen Pilotphase im vergangenen Jahr angelaufen ist. Für das auf mehrere Jahre anberaumte Projekt wollen die Forscher die genetische Information von einer Million der insgesamt 1,4 Millionen Esten in einer Datenbank sammeln und auswerten. Die Kosten werden auf umgerechnet rund 150 Millionen Euro geschätzt.

Mit Hilfe der Pharmakogenetik sollen die Gene herausgefunden werden, die die unterschiedlichen Reaktionen auf Arzneimittel verursachen. Die Patienten werden nach Ansicht der Forscher davon profitieren, da sie mit weniger Nebenwirkungen zu rechnen haben. Wie die renommierte Zeitschrift „The Pharmacogenomics Journal“ (2003, Volume 3, Number 1, pp.14-16) berichtete, lassen sich nach einer Studie der Boston Consulting Group mit dieser Forschung auch die Entwicklungskosten für neue Medikamente drastisch reduzieren. Pharmakogenetische Informationen könnten auch Einfluss auf die Kosten und die Durchführung von klinischen Studien haben. Die Verwendung von genetischen Informationen stelle dann sicher, dass nur Patienten, bei denen das zu testende Medikament wirksam sei, in die Studien mit einbezogen würden. Teilnehmer, die nicht für eine klinische Studie geeignet seien, weil sie entweder nicht auf das zu testende Medikament ansprächen oder es bei Ihnen zu unerwünschten Nebenwirkungen käme, würden so besser geschützt, betonen die Wissenschaftler. Die Anzahl der Studienteilnehmer wäre damit kleiner und die Kosten somit geringer.

Nach Ansicht von Prof. Weihrauch sind nicht nur bei klinischen Studien Einsparungen zu erwarten, sondern auch bei der Behandlung des einzelnen Patienten, da eine gezieltere Behandlung möglich wäre, das „Herumprobieren“, die richtige Dosis herauszufinden, wegfalle und somit ebenfalls weniger Arztbesuche nötig wären. Die neu gewonnenen Informationen erlaubten es künftig vielleicht auch, dass sich das Ver-hältnis von der Entwicklung so genannter „Blockbuster-Drugs“ (Medikamente mit mehr als einer Milliarde US-Dollar Umsatz weltweit) zugunsten von „Teilindikationen“ und so genannter „Orphan-Drugs“ (Arzneimittel für seltene Krankheiten mit geringen Patientengruppen und Märkten) verschiebe, so Prof. Weihrauch. Der Grund dafür liege darin, dass sich verschiedene Patientengruppen hinsichtlich ihrer genetischen Ähnlichkeit in Untergruppen einteilen ließen.

Die pharmakogenetische Forschung wirft auch ethische, rechtliche sowie soziale Fragen auf. Ein wichtiger Punkt dabei werde der Datenschutz und die Wahrung der Vertraulichkeit im Umgang mit den gewonnenen genetischen Informationen sein, heißt es in dem Pharmakogenomics Journal. Denkbar sei außerdem, dass Patienten, die aufgrund ihres pharmakogenetischen Tests vermutlich schwer zu behandlen sein werden, höhere Prämien in der Krankenversicherung zahlen müssten. Es könne zudem für die pharmakogenetisch getestete Person und ihre Verwandten psychologisch schwierig werden, wenn sich bei dem Test zusätzlich herausstelle, dass andere Krankheitsrisiken bestehen, die unter Umständen unheilbar sind. Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich der „Nuffield Council on Bioethics“, der seine Ergebnisse einer großen Umfrage unter Experten verschiedener Fachrichtungen und der Öffentlichkeit im Herbst dieses Jahres veröffentlichen will. Das „Nuffield Council on Bioethics“ wurde 1991 von der Nuffield Foundation in Großbritannien gegründet und seit 1994 gemeinsam von der Nuffield Foundation, dem Medical Research Council und dem Wellcome Trust finanziert.

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Barbara Bachtler idw

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