Das Gehirn lernt nie aus

Lernvorgänge verändern die Grundstruktur der Sehrinde – Ergebnisse in ’PNAS’

Noch vor einigen Jahren glaubten Wissenschaftler, dass die Nervenzellen, die für Bewegung und Wahrnehmung verantwortlich sind, im erwachsenen Gehirn unveränderlich miteinander vernetzt seien. Inzwischen zeigte sich aber, dass sich die Organisation und Funktion unseres Gehirns lebenslang an äußere oder krankheitsbedingte Veränderungen anpasst. Dr. Ben Godde vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität Tübingen und Dr. Hubert Dinse vom Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum haben zusammen mit zwei weiteren Kollegen durch die Kombination von Elektrostimulation der Gehirnzellen und Videobeobachtung des Blutflusses im Gehirn im Tierversuch gezeigt, dass sich das Sehsystem im erwachsenen Gehirn durch Lernprozesse in der Grundstruktur verändert. Die renommierte Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) berichtet in ihrer Ausgabe vom 30. April 2002 über die Ergebnisse.
Gebrauch, Training und Lernen verändern unsere motorischen Leistungen und Wahrnehmungsfähigkeiten. Bei diesen Vorgängen verändert sich auch die Hirnrinde bis ins hohe Alter. Die Sehrinde, der Ort, an dem visuelle Reize wahrgenommen, gespeichert und sinnvoll zugeordnet werden, befindet sich im hinteren Teil des Großhirns. Um im Sehsystem Lernvorgänge auszulösen, stimulierten die Forscher über eine Mikroelektrode die Gehirn-Nervenzellen von narkotisierten Tieren mit winzigen Strömen. Diese Ströme aktivieren in einem sehr kleinen Bereich des Hirngewebes viele Nervenzellen gleichzeitig. Dadurch verändert sich die Reizübertragung zwischen den Nervenzellen zunächst nur für wenige Sekunden, bei wiederholter, gleichzeitiger Aktivierung jedoch dauerhaft.

Die für das Sehen verantwortlichen Hirnbereiche höherer Säugetiere repräsentieren das Gesichtsfeld systematisch – wie eine Landkarte. Benachbarte Nervenzellen stellen benachbarte Orte im Gesichtsfeld dar. Dabei überlagern sich im Gehirn verschiedene so genannte funktionelle Karten, die bestimmte Eigenschaften der gesehenen Objekte wie Orientierung, Bewegungsrichtung und Kontrast repräsentieren. Das am besten untersuchte Beispiel sind die Orientierungskarten. Bei der experimentellen Untersuchung solcher Karten nutzen die Forscher den Zusammenhang zwischen der Aktivität der Nervenzellen und ihrem Energieverbrauch. Werden bestimmte Hirnbereiche aktiviert, ändert sich dort die Durchblutung, um den erhöhten Sauerstoffverbrauch zu decken. Die mit diesen Vorgängen verbundenen winzigen Änderungen in der Helligkeit des Hirngewebes können die Forscher mit hochempfindlichen Videokameras direkt messen. Nach computergestützter Auswertung lässt sich aus den Messergebnissen über einen Bereich von mehreren Millimetern errechnen und darstellen, welche Nervenzellen durch einen bestimmten Reiz erregt worden sind. Führt man dies für viele unterschiedliche Reize durch und stellt die Ergebnisse in einer gemeinsamen Karte dar, entsteht ein umfassendes Bild der Orientierungskarte im Gehirn.

Die Hirnforscher stellten fest, dass die Orientierungskarten ihre Grundstruktur bereits nach wenigen Stunden der Stimulation verändern. Betroffen sind davon Bereiche von mehreren Millimetern, obwohl die elektrischen Reize auf weniger als einen Zehntel Millimeter beschränkt waren. Die Ursache für diese weitreichenden Auswirkungen vermuten die Wissenschaftler im Bauprinzip der bei höheren Säugetieren und dem Menschen besonders ausgeprägten Hirnrinde. Hier findet sich ein dichtes und sehr verzweigtes Netzwerk horizontaler Nervenfasern, die sich über viele Millimeter erstrecken können. Die Forscher gehen davon aus, dass sie bei der Reizverarbeitung eine wichtige Rolle spielen. Diese Veränderungen wurden nicht durch Training ausgelöst, sondern durch elektrische Stimulation, deren Reize keinerlei „Bedeutung“ besitzen. Offenbar kommen durch die Elektrostimulation Selbstorganisationsprozesse in Gang, die zu bestimmten, geordneten Veränderungen führten. Als besonders interessant bezeichnen die Forscher, dass sich die Veränderungen im visuellen System in mehreren Eigenschaften von denen in anderen Gehirnbereichen unterscheiden, die ebenfalls durch Elektrostimulation verändert werden können: In der Sehrinde wirken sich die Effekte räumlich erheblich weiter aus und sind nicht vollständig rückgängig zu machen. Dies könnte darauf hindeuten, so die Forscher, dass die Sehrinde zwar veränderbar ist, sich aber in der Ausbildung dieser Eigenschaft von anderen Hirnbereichen unterscheidet.

Auch krankhafte Veränderungen des Gehirns, zum Beispiel als Folge von Verletzungen, können als Lernprozesse aufgefasst werden und führen dazu, dass sich die betroffenen Hirnbereiche neu organisieren. Das Verständnis dieser Mechanismen halten die Forscher für besonders bedeutsam, da es Hinweise gibt, wie sich das Zentralnervensystem nach einer Schädigung regeneriert. Die neuen Forschungen könnten auch als Basis für Untersuchungen bei Patienten dienen, die durch Verletzung der Augen oder der Sehrinde erblindet sind. Möglicherweise ließen sich in Zukunft auf dieser Grundlage auch neue Therapieansätze für Rehabilitations-Maßnahmen entwickeln.


Nähere Informationen:

Dr. Ben Godde, Volkswagen-Nachwuchsgruppe „Kortikale Reorganisation und Lernen“, Institut für Medizinische Psychologie, Gartenstraße 29, 72074 Tübingen, Tel. 0 70 71/2 97 42 20, Fax 0 70 71/29 59 56, E-Mail: benjamin.godde@uni-tuebingen.de

PD Dr. Hubert R. Dinse, Institut für Neuroinformatik, Ruhr-Universität, 44780 Bochum, Tel: 0234/32-25565, Fax: 0234/32-14209,
E-Mail: hubert.dinse@neuroinformatik.ruhr-uni-bochum.de

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