Europäische Sozialstaaten leiden unter wachsender Ungleichverteilung der Erwerbseinkommen – Analyse in den neuen WSI-Mitteilunge
Würden sämtliche Sozialtransfers mit Ausnahme der Rentenleistungen wegfallen, hätte die Armutsquote in der EU 2003 statt real 15 Prozent 25 Prozent betragen. Rechnet man auch die Wirkung der Rentensysteme heraus, würden ohne soziale Sicherung sogar 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Trotz dieses positiven Effektes und ungeachtet einiger Fortschritte sind die EU und viele ihrer Mitgliedsstaaten bei der Armutsbekämpfung jedoch nur „wenig erfolgreich“.
Zu diesem Schluss kommt Prof. Dr. Ute Klammer von der Universität Duisburg-Essen. Die europäischen Sozialstaaten würden vielmehr mit „einer ungleicher werdenden Verteilung der Erwerbseinkommen“ konfrontiert, deren Ausgleich sie „zunehmend überfordert“, schreibt die Expertin für Sozialpolitik in der aktuellen Ausgabe der WSI-Mitteilungen (3/2008). Ein zentraler Ansatzpunkt bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sei daher eine „Verbesserung der Primärverteilung“, also Reformen, die sicherstellen, dass Erwerbseinkommen existenzsichernd sind.
Das gilt nach Analyse der Wissenschaftlerin insbesondere für Deutschland. Die Bundesrepublik liegt bei der Armutsquote im EU-Mittelfeld. Als arm gelten nach EU-Definition Haushalte, die weniger als 60 Prozent des gewichteten mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Allerdings ist die Armutsquote in der Bundesrepublik seit den 90er Jahren angestiegen, während sie im EU-Durchschnitt zwischen 1996 und 2005 stagnierte.
Je nach Datenquelle wurden in der Bundesrepublik zuletzt Armutsquoten zwischen 15 und gut 17 Prozent gemessen. Im Gefolge von Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der vergangenen Jahre hätten sich verschiedene Armutsrisiken deutlich verschärft, beobachtet die Wissenschaftlerin. Die Professorin nennt vier zentrale Bereiche:
Arbeitslosigkeit: Das Arbeitslosengeld I (ALG I) erreiche einen zunehmend geringeren Anteil der Arbeitslosen, so Klammer. Die Verkürzung der Bezugsdauer sei dafür ein wichtiger Grund. Gleichzeitig würden Langzeitarbeitslose im ALG II häufiger vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil die Einkommen weiterer Mitglieder der häuslichen Bedarfsgemeinschaft stärker angerechnet werden. Ein weiterer Indikator für das wachsende Armutsrisiko von Arbeitslosen: Knapp zehn Prozent der Bezieher von ALG I beziehen aufstockend ALG II. „In dieser Entwicklung schlagen auch Niedrigeinkommen zu Buche, die bei Arbeitslosigkeit nur Arbeitslosengeldansprüche unterhalb des ALG II-Niveaus nach sich ziehen“, betont die Forscherin.
Niedrigeinkommen: Auch die Zahl der „Aufstocker“, die trotz Arbeit auf ALG II angewiesen sind, habe eine „in ihren Ausmaßen nicht vorausgeahnte Entwicklung“ genommen, schreibt die Wissenschaftlerin und verweist auf die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit: So gingen Anfang 2007 bereits knapp 1,3 Millionen Bezieher von ALG II einer bezahlten Beschäftigung nach. 480 000 hatten sogar einen Vollzeit-Job.
Armut im Alter: Die Expertin warnt vor einer „absehbaren Rückkehr der Altersarmut“ als weit verbreitetes Problem, ganz besonders in Ostdeutschland. Ursache für das deutlich wachsende Armutsrisiko künftiger Rentner: Veränderungen in vielen Erwerbsbiographien, die längere Phasen von Arbeitslosigkeit oder niedrige Verdienste aufweisen, in Kombination mit den Reformen der vergangenen Jahre. Diese lassen in den kommenden 30 Jahren auch für kontinuierlich beschäftigte Durchschnittsverdiener das Rentenniveau sinken – von heute 63 Prozent des Nettoeinkommens auf rund 43 Prozent.
Kinderarmut: Die Wissenschaftlerin konstatiert eine „bemerkenswerte Renaissance der Familienpolitik, die durchaus mit Leistungsausdehnungen einhergeht und viele alte Forderungen anpackt“. Positiv seien das Elterngeld und der Kapazitätsausbau bei der Betreuung von Kleinkindern. Trotzdem „ist es bisher nicht gelungen, das Problem der Kinderarmut in den Griff zu bekommen“, attestiert Ute Klammer. So lebte beispielsweise 1965 laut dem Kinderreport des Deutschen Kinderhilfswerkes jedes 75. Kind unter sieben Jahren von Sozialhilfe. 2006 war es bereits jedes sechste Kind.
Als „wichtigsten Ansatzpunkt“ für eine erfolgreichere Armutsbekämpfung identifiziert Prof. Dr. Klammer Maßnahmen, die die Ausbreitung von nicht-existenzsichernden Erwerbseinkommen begrenzen. So sei eine Abkehr „von der Förderung geringfügiger Beschäftigung ebenso erforderlich wie der weitere Einsatz für Mindestlöhne“, schreibt die Wissenschaftlerin, „auch wenn Mindestlöhne allein, wie sich im EU-Vergleich zeigt, nicht Garant für niedrige Armutsquoten sind.“
Parallel seien daher verschiedene Reformen bei der sozialen Sicherung sinnvoll. Dazu zählt die Forscherin unter anderem eine Grundsicherung für Kinder und eine allgemeine Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Rentenversicherung, die von einer Mindestsicherung für Beschäftige mit besonders schwieriger Erwerbsbiographie flankiert werden sollte.
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