Über Epilepsien gibt es noch viel zu lernen
Soziale Probleme in den Beziehungen zu Freunden und Bekannten, in der Partnerschaft, aber auch in Ausbildung und Beruf nennen Epilepsiekranke am häufigsten, wenn sie nach Belastungen im täglichen Leben gefragt werden. In Deutschland hat nicht einmal die Hälfte der Epilepsiepatienten im erwerbsfähigen Alter eine Arbeits- oder Ausbildungsstelle – ein erheblich niedrigerer Anteil als in der Durchschnittsbevölkerung, obwohl sich die Krankheit in vielen Fällen mit einer regelmäßigen Beschäftigung vereinbaren ließe. Mit einer Informationsveranstaltung über „Epilepsie und Alltag“ wollten das Zentrum Epilepsie Erlangen (ZEE) und der Verein zur Hilfe Epilepsiekranker e.V. Betroffenen und ihren Angehörigen Gelegenheit zum direkten Kontakt mit Fachleuten geben, aber auch generell zur Aufklärung über die meist gut zu beherrschenden chronischen Formen der Epilepsie beitragen. Je mehr Kenntnisse die medizinische Forschung über epileptische Anfälle sammeln kann, desto deutlicher wird, dass es „die Epilepsie“ nicht gibt.
„Eine Übererregbarkeit an Knotenpunkten im Netzwerk der Gehirn-Nervenzellen“, so definiert Prof. Hermann Stefan, Leiter des ZEE an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), das gemeinsame Merkmal aller Erkrankungen, die unter dem Begriff Epilepsie zusammengefasstwerden. Die Symptome reichen von kaum merklichen Absencen – sekundenlangen Abwesenheitszuständen, die oft als Unaufmerksamkeit oder Unkonzentriertheit gedeutet werden – über unkontrolliertes Bewegen, kurzfristiges Zittern oder Versteifen von Gliedmaßen bis hin zu Störung oder Verlust des Bewusstseins und der Beherrschung der Körperhaltung. Der plötzliche Sturz, begleitet von heftigen Zuckungen und Bewusstlosigkeit – eine Assoziation, wie sie das Wort „Epilepsie“ häufig hervorruft – kennzeichnet nur die schwersten Fälle der Anfallskrankheit. Die Zahl der Anfälle variiert ebenfalls sehr stark und kann mit Medikamenten teils so beeinflusstwerden, dass über viele Jahre hinweg Anfallsfreiheit erreicht wird. Mit psychischen Krankheiten oder geistiger Behinderung, die hartnäckige Vorurteile immer noch damit verbinden, hat Epilepsie nichts zu tun.
Schrittmacher für den Nervus vagus
Ein Unfall, ein Geburtstrauma, Entzündungen und Virusinfektionen, Durchblutungsstörungen oder Tumoren im Hirn, zusätzlich unter Umständen in einigen Fällen eine entsprechende genetische Disposition kommen als Ursachen in Frage. Die Behandlungsmethoden werden auf die Ursachen abgestimmt und ständig verfeinert. Viele Patienten müssen dauerhaft antiepileptische Medikamente nehmen; unerwünschte Begleiterscheinungen wie Müdigkeit, Zittern oder Schwindelgefühle können bisher nicht völlig vermieden werden, doch hat die Pharmakologie hier schon wesentliche Fortschritte erzielt.
Eine weitere Möglichkeit zur Anfallskontrolle ist die elektrische Stimulation des „Nervus vagus“, eines Zentrums in der Steuerung des vegetativen Nervensystems, durch einen implantierten Schrittmacher, der ähnlich wie ein Herzschrittmacher funktioniert. Wenn ein klar eingrenzbarer Störungsherd im Gehirn als Auslöser der Anfälle feststellbar ist, können Epilepsiepatienten, die auf pharmazeutische Mittel nicht oder nur wenig ansprechen, auch operativ behandelt werden. Auf diese chirurgische Therapie und die vorhergehende umfassende Diagnostik ist das Zentrum Epilepsie Erlangen am Kopfklinikum der FAU spezialisiert. Hierbei findet eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der NeurologischenKlinik (Vorstand: Prof. Dr. Bernhard Neundörfer), der Neurochirurgischen Klinik (Prof. Dr. Rudolf Fahlbusch) und auch eine Kooperation mit der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universität (Prof. Dr. Wolfgang Rascher) statt.
Eine exakte Diagnose ist für jeden Fall von Epilepsie unabdingbar. Vor einem Eingriff zur Entfernung des Fokus, des Störungsherds, werden jedoch alle verfügbaren Ressourcen der modernen Medizintechnik für eine genaue Ortung eingesetzt. Durch die Kombination verschiedener Verfahren – der Elektro- und der Magnetoenzephalographie (EEG und MEG), der Magnetresonanztomographie (MRT), der Single-Photon-Emissionscomputertomographie (SPECT), der Magnetresonanz-Spektroskopie (MRS) und der Positronen-Emissionstomographie (PET) – können Wissensquellen erschlossen werden, die nach Einschätzung von Prof. Stefan noch bei weitem nicht ausgeschöpft sind.
Biochemische „Landkarte“ des Gehirns als Zukunftsvision
EineMikroläsion, also eine Störung der Nervenzellfunktionen oder eine unvorstellbar winzige Verletzung im Gewebe des Hirns, mag von einem dieser Untersuchungsverfahren „übersehen“ werden; dass sie auch der Koregistrierung entgeht, dem gleichzeitigen Einsatz von bildgebenden Verfahren und elektrophysiologischer Ableitung, ist äußerst unwahrscheinlich. Mit Hilfe der Magnetresonanz-Spektroskopie ist abzulesen, welche chemischen Substanzen in bestimmten Zellen auftreten und ob die Verteilung vom Normalzustand abweicht. Für die ferne Zukunft sieht Prof. Stefan hier den Weg zu einem „Stoffwechsel-Mapping“, einer Kartierung der biochemischen Prozesse im Gehirn.
Die meisten der heute eingesetzten Diagnoseverfahren sind nicht-invasiv: in den Körper einzudringen ist dazu nicht nötig, zum Teil ist nicht einmal Hautkontakt erforderlich. Die Bedeutung der Verfahren, die auf der Messung biomagnetischer Felder basieren, wird nach den Worten des ZEE-Leiters künftig noch wachsen. Die Entwicklung von Multikanalsystemen, die an vielen Punkten gleichzeitig messen, macht es jetzt schon möglich, größere Anteile des Gehirns flächendeckend zu erfassen und epilepsietypische Potentialschwankungen, wie steil ansteigende und abfallende Spikes, der Störungsquelle zuzuordnen. „Doch damit“, meint Prof. Stefan, „ist die Entwicklung noch keineswegs am Ende angelangt.“ Die Eröffnung des Neurozentrums der FAU im September dieses Jahres wird auch die Epilepsiediagnostik weiter voranbringen.
Ein ganz anderer Ansatz der Behandlung von Epilepsien befasst sich mit den Möglichkeiten der Einstufung ins Berufsleben, den Tätigkeiten, die Patienten – je nach Schwere der Erkrankung – ohne Gefahr für sich oder ihre Umwelt ausüben können. Das wachsende Instrumentarium an diagnostischer Methodik und hochmodernen Geräten soll jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass auch heute noch schwere Fehldiagnosen vorkommen. Epilepsieanfälle können mit Synkopen, die durch Herz- oder Durchblutungsstörungen bedingt sind, oder mit psychogenen Anfällen verwechselt werden. Immerhin 20 Prozent der Patienten, die deutsche Epilepsiezentren aufsuchen, wurden zuvor falsch behandelt – in manchen Fällen mehr als 15 Jahre lang.
* Weitere Informationen:
Prof. Dr. Hermann Stefan, Zentrum Epilepsie Erlangen
Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen
Tel.: 09131/85 -34541, Fax: 09131/85 -36469
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