Stuttgarter Biochemiker entschlüsseln einen Wirkmechanismus des Cytokins MIF


Menschliche Eiweißstoffe aus der Klasse der sogenannten Cytokine steuern die Funktionen des Immunsystems und sind somit von großer Bedeutung für die menschliche Immunabwehr. Das Cytokin MIF (Macrophage migration inhibitory factor) ist unter anderem bei der Stress- und Immunantwort auf akute und chronische Entzündungen wie dem septischen Schock oder der rheumatischen Arthritis zentral beteiligt. Obwohl MIF zu den ersten entdeckten Cytokinen gehört, konnte ein molekulares Target der Wirkung von MIF von Stuttgarter Biochemikern erst jetzt entschlüsselt werden, wie in einem Beitrag für das Wissenschaftsjournal „Nature“ nachzulesen ist. Wirkung und Signalübertragung von MIF wurde von der Arbeitsgruppe Biochemie am Institut für Grenzflächenverfahrenstechnik der Universität Stuttgart, des Instituts für Zellbiologie und Immunologie der Universität Stuttgart und des Stuttgarter Fraunhofer Instituts IGB zusammen mit Forschern des Hospital Vaudois in Lausanne/Schweiz sowie des Physiologisch-chemischen Instituts der Universität Tübingen aufgedeckt. Es zeigt sich, dass MIF nicht über einen Rezeptor auf der Hülle auf die Zelle einwirkt, sondern sein Ziel in einem Protein in der Zelle selbst findet. Hieraus ergeben sich neue Ansätze für die biomedizinische Forschung.

Langfassung:
Cytokine regulieren die Wechselwirkung zwischen Immunzellen untereinander sowie zwischen Immun- und anderen Körperzellen. Derzeit sind etwa 100 solcher Eiweißstoffe bekannt. Aufgrund ihrer steuernden Rolle beim Immunprozess sind sie zentrale Forschungsschwerpunkte in der biomedizinischen Forschung. Einige Cytokine finden heute bereits Verwendung in der medizinischen Therapie und Diagnose von Krankheiten des Immunsystems sowie bei Krebskrankheiten.
Eine Cytokinfunktion mit dem Namen Macrophage migration inhibitory activity wurde bereits in den Anfängen der Immunforschung im Jahr 1962 entdeckt. Der entsprechende Eiweißstoff, der Macrophage migration inhibitory factor oder kurz MIF, wurde 1966 zuerst beschrieben und zählt daher zusammen mit den Interferonen zu den zuerst entdeckten Cytokinen überhaupt. Während die gentechnische Revolution in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zur Entdeckung vieler weiterer Cytokine führte, gelang die Klonierung des MIF-Proteins erst dreißig Jahre nach der Entdeckung des Proteins. Einige der immunologischen Funktionen von MIF konnten im Verlauf der neunziger Jahre aufgeklärt werden. So weiß man heute, dass MIF bei der Stress- und Immunantwort auf akute und chronische Entzündungen/Infektionen zentral beteiligt ist. Auch die Fehlsteuerung des Immunsystems bei Autoimmunkrankheiten scheint über MIF-gesteuerte Prozesse zu laufen. Entsprechend haben vorklinische Studien bei Tieren gezeigt, dass gegen MIF gerichtete Antikörper therapeutisch zur Behandlung von septischem Schock, Lungenkrankheiten oder Immunkrankheiten wie der Rheumatoiden Arthritis eingesetzt werden könnten. Eine im Januar veröffentlichte Arbeit in Nature Medicine hat gezeigt, dass MIF-Antikörper sogar dann vor Bakterieninfektionen schützen können, wenn sie Stunden nach der Infektion verabreicht werden. Antikörpertherapien auf der Basis anderer Cytokine mussten bisher immer vor dem Zeitpunkt der Infektion gegeben werden. Ein Zusammenhang scheint auch zwischen der MIF-Verteilung und -Ausschüttung im Körper und der Tumorbildung zu bestehen. Darüber hinaus zählt MIF zu den wenigen Cytokinen, die zugleich eine enzymatische Aktivität besitzen. Eine Blockierung dieser Enzymaktivität könnte zugleich die entzündungsfördernden Eigenschaften von MIF bremsen. MIF gilt dazu als das derzeit einzige bekannte Cytokin, welches von Substanzen wie Cortison nicht unterdrückt oder gedämpft wird, sondern sogar aktiviert wird und die immununterdrückenden Wirkungen von Cortison hemmt. MIF-basierte Therapieansätze sind daher relevant für eine Vielzahl von mit Glucocorticoiden behandelten chronischen Entzündungskrankheiten und Allergien.
Die meisten Cytokine entfalten ihre Wirkung über einen sogenannten Rezeptor, der die Signale von außen in die Zellen vermittelt. Während für die meisten Cytokine kurz nach ihrer Klonierung auch die entsprechenden Signal-vermittelnden Rezeptoren entdeckt wurden, blieb der molekulare Mechanismus der Wirkung von MIF trotz seiner frühen Entdeckung und trotz der Klonierung des Eiweißstoffes vor über zehn Jahren weitgehend unbekannt. Arbeiten eines Forscherteams der Arbeitgemeinschaft Biochemie des IGVT der Universität Stuttgart, des IZI der Universität Stuttgart und des Stuttgarter Fraunhofer Instituts IGB zusammen mit kooperierenden Forschern des Hopital Vaudois in Lausanne/Schweiz sowie des Physiologisch-chemischen Instituts der Universität Tübingen haben nun zum ersten Mal ein sogenanntes molekulares Target (Ziel) der Wirkung und Signalübertragung von MIF entdeckt.
Überraschenderweise handelt es sich bei diesem signalvermittelnden Molekül nicht um einen typischen membranständigen MIF-Rezeptor, sondern um ein im Zellinneren lokalisiertes Protein mit dem Namen Jab1. Jab1 zählt zur Kategorie der Transkriptions-Coaktivatoren, also zu einer wachsenden Klasse von Eiweißstoffen, die nach heutigen Erkenntnissen genregulatorische Prozesse mitsteuern, ohne selbst direkt als Transkriptionsfaktor mit der Erbinformation wechselwirken zu können. Die Stuttgart/Lausanne/Tübinger-Forscher konnten zeigen, dass MIF über einen, Endocytose genannten Prozess, in Immunzellen und andere sogenannte Zielzellen aufgenommen wird und im Zellinneren mit Jab1 wechselwirkt. Die Aufnahme von MIF in die Zelle scheint dabei ohne die Hilfe von Membranrezeptoren ablaufen zu können.
Die neuen Arbeiten der Forschergruppe zeigen weiterhin, dass MIF über die Interaktion mit Jab1 auf steuernde Prozesse in der Zelle wie die Anschaltung von immunologisch relevanten Genprodukten und den Zellzyklus Einfluss nehmen kann. Diese Wirkung verläuft über die Stabilisierung eines Proteins mit dem Namen Kip1, das seinerseits direkt den Zellzyklus kontrolliert.
Die Arbeiten geben zum ersten Mal Aufschluss über die molekularen Zielstrukturen der Wirkung von MIF und haben somit unmittelbar Bedeutung für weitere biomedizinische Forschungsansätze, die zur Entwicklung von MIF-Jab1-basierten Therapie- und Diagnosestrategien führen könnten. Diese wiederum könnten zur Entwicklung von neuen Medikamenten für die Krankheiten eine Rolle spielen, bei denen MIF vermittelnd mitwirkt.

Kontakt:
Dr. Jürgen Bernhagen, Arbeitsgruppe Biochemie, Institut für Grenzflächenverfahrenstechnik, Universität Stuttgart, Nobelstraße 12, 70569 Stuttgart,
Tel: 0711 970 4020, Fax: 0711 970 4200; E-Mail jbe@igb.fhg.de

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Ursula Zitzler idw

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