Gut gerüstet für den demographischen Wandel

Der demographische Wandel ist keine Bedrohung, sondern bietet viele Chancen, wenn die politischen Weichen richtig gestellt werden. Die Empfehlungen der Akademiengruppe „Altern in Deutschland“ leiten aus der interdisziplinären Analyse vorliegender Forschungsergebnisse konkrete und umsetzbare politische Empfehlungen ab. Sie stoßen bei Politikern auf großes Interesse.

Der demographische Wandel in Deutschland ist eine Tatsache. Allerdings wird er oft nur als Bedrohung für Lebensstandard, Sozialsysteme und die gesellschaftliche Entwicklung dargestellt – verbunden mit dem Ruf nach politischen Entscheidungen, um diese Folgen abzumildern.

„In der Tat müssen hier auch politische Entscheidungen getroffen werden“, erklärt die Alternsforscherin Prof. Dr. Ursula M. Staudinger, Vizepräsidentin der Leopoldina und Vizepräsidentin der Jacobs University Bremen GmbH und dort Gründungsdekanin des Centers on Lifelong Learning and Institutional Development. Die Psychologin liefert die Erklärung dafür, warum auf diesem Gebiet politisch bislang vergleichsweise wenig geschehen ist: „Die Komplexität der beteiligten Prozesse macht politische Entscheidungen nicht einfach. Altern ist ein Thema das quer zu den ministeriellen Ressorts liegt. Es erfordert konzertierte Aktionen“, sagt die stellvertretende Sprecherin der interdisziplinären Akademiengruppe „Altern in Deutschland“.

Altern interdisziplinär erforschen.

Darum hat die Akademiengruppe in einer dreijährigen Arbeit alle relevanten Forschungsergebnisse aus den verschiedensten Bereichen zusammengetragen, bewertet und daraus ihre Empfehlungen abgeleitet. Die gute Nachricht für Politik und Öffentlichkeit: Der demographische Wandel ist keine Bedrohung, sondern die gewonnenen Jahre bieten neue Chancen. Die Voraussetzungen: Veraltete Vorstellungen und Vorurteile in den Köpfen der Menschen über die Leistungsfähigkeit und Potenziale älterer Menschen müssen revidiert und die Weichen auf verschiedenen politischen Ebenen richtig gestellt werden.

Die Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung, vor allem der Zugewinn an (gesunden) Lebensjahren, gehört zu den Potentialen des Alters und des Alterns. Staudinger:?“Es gibt damit eine große Bandbreite an Leistungsfähigkeit und Handlungsoptionen, die im Alter prinzipiell offen steht.“

Veraltete Vorstellungen revidieren.

Es gelte jedoch, so Staudinger, vor allem veraltete Vorstellungen über die Gliederung und Strukturierung des Lebensverlaufs über Bord zu werfen. „Eine Gesellschaft des längeren Lebens erfordert auch ein längeres Arbeits- und Bildungsleben. Arbeit und Lernen müssen zu einem selbstverständlichen kontinuierlichen Bestandteil eines erfüllten längeren Lebens werden“, so die Psychologin zu einem wesentlichen Bereich der Empfehlungen.

Neue Konzepte etablieren.

Dies ist jedoch nach Meinung der Akademiegruppe unter den gegenwärtig herrschenden Arbeitsbedingungen und den Bedingungen der Aus-, Weiter- und Fortbildung nicht in ausreichendem Maß möglich. Hier sind Unternehmen, Politik aber auch die einzelnen Menschen gefordert. So fordert die Akademiengruppe beispielsweise eine Flexibilisierung der Dauer der Berufstätigkeit – ohne Aufgabe des gesetzlichen Rentenalters: Je nach Fähigkeit und Wunsch sollte es möglich sein, länger im Beruf zu bleiben, als es das derzeitige Arbeitsrecht und Tarifverträge vorsehen.

Ein Leben lang lernen.

Die Unternehmen müssen mehr in die Fortbildung ihrer Mitarbeiter investieren. „Weiterbildung muss zum normalen Bestandteil der Erwerbsarbeit werden“, sagt Staudinger, „und die Mitarbeiter müssen diese Weiterbildung etwa mit Hilfe einer Zertifizierung nachweisen können.“ Dazu bedarf es eines Finanzierungsmodells, das den Einzelnen genauso in die Pflicht nimmt wie den Arbeitgeber und auch den Staat, etwa über „Bildungskredite“ und bestehende „Rentenanwartschaften“. Hinzu kommen müssen auch Möglichkeiten, rechtzeitig aus körperlich stark belastenden oder geistig erschöpfenden Tätigkeiten in andere umzusteigen, neue Karrieren nach Weiterbildung in anderen Berufsfeldern müssen möglich sein.

Die Empfehlungen der Wissenschaftlergruppe sind bei den Politikern auf offene Ohren gestoßen. Der gerade wieder gewählte Bundespräsident, Horst Köhler, an den die Empfehlungen übergeben wurden, will mit der Leopoldina zusammen die Ergebnisse weiter in die Gesellschaft hineintragen. Außerdem wurde Staudinger beispielsweise als Vertreterin der Akademiengruppe in den „Beirat Neue Kultur der Arbeit“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales berufen und berät auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. „Die Gestaltung einer Gesellschaft für alle Lebensalter wird eine der wichtigen politischen Aufgaben der nächsten Dekade“ sagt Staudinger.

Potenziale systematisch erforschen.

Bisher gibt es in Deutschland allerdings noch kein breit interdisziplinär angelegtes Forschungsinstitut, das die Potenziale des Alters und Alterns systematisch erforscht und daraus Hinweise für die Gestaltung von Lebens-, Arbeits- und Bildungsumwelten ziehen könnte, bemängelt die Akademiegruppe. „Genau dies wäre aber nötig, um die Potentiale des Alters auf breiter Basis erschließen zu können“, sagt Staudinger. Denn die Akademiengruppe „Altern in Deutschland“ hat zwar die vorhandenen Forschungsergebnisse gesichtet und bewertet, aber war nicht dazu angelegt, eigenständige Forschung zu betreiben.

Über die Akademiengruppe Altern in Deutschland
Im Januar 2006 gründeten die Leopoldina und die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften acatech die gemeinsame interdisziplinäre Akademiengruppe „Altern in Deutschland“. Die Gruppe aus 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus zehn Bereichen sollte auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz öffentliche Empfehlungen erarbeiten, um die Chancen der aufgrund steigender Lebenserwartung „gewonnenen Jahre“ vernünftig zu nutzen und mit den Herausforderungen des demographischen Wandels klug umzugehen. Die Ergebnisse sind in acht Materialienbänden und einem Empfehlungsband veröffentlicht und wurden Ende März Bundespräsident Horst Köhler überreicht.
Über die Akademie Leopoldina
Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina (gegründet 1652 in Schweinfurt) mit Sitz in Halle an der Saale (seit 1878) ist eine überregionale Gelehrtengesellschaft mit gemeinnützigen Aufgaben und Zielen. Im Juli 2008 wurde die Leopoldina zur Nationalen Akademie der Wissenschaften in Deutschland ernannt.

Sie fördert inter- und transdisziplinäre Diskussionen durch öffentliche Symposien, Meetings, Vorträge, die Arbeit von Arbeitsgruppen, verbreitet wissenschaftliche Erkenntnisse, berät die Öffentlichkeit und politisch Verantwortliche durch Stellungnahmen zu gesellschaftlich relevanten Themen, fördert junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und sie betreibt wissenschaftshistorische Forschung.

Der Leopoldina gehören zur Zeit etwa 1350 Mitglieder in aller Welt an. Drei Viertel der Mitglieder kommen aus den Stammländern Deutschland, Schweiz und Österreich, ein Viertel aus 30 weiteren Ländern. Zu Mitgliedern werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus naturwissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen sowie aus den Kultur-, Technik-, empirischen Geistes-, Verhaltens- und Sozialwissenschaften gewählt, die sich durch bedeutende Leistungen ausgezeichnet haben. Unter den derzeit lebenden Nobelpreisträgern sind 31 Mitglieder der Leopoldina.

Media Contact

Prof. Dr. Jutta Schnitzer-Ungefug idw

Weitere Informationen:

http://www.leopoldina-halle.de

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