Radikale Innovation statt geordnetem Rückbau
Nach einer langen Phase des Bevölkerungswachstums hat sich Deutschland seit 2003 auf den Weg des Schrumpfens begeben. Bis dato hat die Zahl der Einwohner um rund eine halbe Million abgenommen. Den Prognosen zufolge dürften sich die Verluste bis 2050 auf etwa acht Millionen summieren.
Dieser Schwund wird mit größter Wahrscheinlichkeit zu Lasten jener Gebiete gehen, die schon länger von Abwanderung und Alterung betroffen sind. Sie liegen vorwiegend im Osten Deutschlands, breiten sich mittlerweile aber immer weiter gen Westen aus. Die Politik hat die Zeichen längst erkannt und versucht den Wandel im Wesentlichen mit zwei Strategien zu beantworten: Mit „Gegensteuern“ und „Anpassen“. Beide Strategien haben jedoch nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt.
„Gegensteuern“ folgt meist klassischer Industrie- und Strukturpolitik, die an Wachstum orientiert ist: Sie will nach gängigen Rezepten Industrie ansiedeln, Gewerbe- und Wohngebiete ausweisen, Arbeit schaffen und Wegzug verhindern. Gerade die Probleme ländlicher Abwanderungsregionen verweigern sich aber üblicher Strukturpolitik, denn sie sind durch wenig Nachwuchs und durch Abwanderung geprägt. Investitionen laufen ins Leere, denn erfahrungsgemäß gelingt es selbst mit bester Familienpolitik und massiven Industriesubventionen nicht, den demografischen Trend umzukehren. Selbst Regionen der neuen Bundesländer, die sich derzeit demografisch stabilisieren, wie Leipzig, Dresden, Jena oder Erfurt, schaffen dies nur, indem sie Menschen aus ihrem eigenen Umland anlocken. Sie verschärfen somit das Problem der Schrumpfgebiete, ohne ihre eigenen Zukunftsaussichten grundlegend zu verändern.
Die Strategie des „Anpassens“ erkennt die Folgen des demografischen Wandels, insbesondere die Alterung und das Schrumpfen, und versucht das Gemeinwesen an die neuen Bedingungen anzugleichen. De facto folgt aus dieser Strategie ein schrittweises Herunterfahren der Daseinsvorsorge: Schulen werden geschlossen, der öffentliche Nahverkehr eingeschränkt, Ämter zusammengelegt und so weiter. Dies führt vor dem Hintergrund einer bundesweit schrumpfenden Bevölkerung zwangsläufig zu einer Konzentration von Bewohnern in den Zentren. Denn die Menschen werden von einem ausgedünnten Infrastrukturangebot förmlich vertrieben und ziehen dorthin, wo sie mehr Jobs und Schulen finden und wo die Freizeiteinrichtungen für ihre Kinder besser sind. Anpassen fördert also den demografischen Niedergang, auch wenn das Gegenteil geplant war.
In der Praxis kommen häufig beide Strategien vermischt und von verschiedenen Ressorts veranlasst zum Einsatz, mit dem Effekt, dass sich die Maßnahmen dann sogar gegenseitig behindern können. So leben in peripheren Gebieten oft viele schlecht ausgebildete Jugendliche. Das Wirtschaftsministerium versucht dem mit Qualifizierungsmaßnahmen entgegenzuwirken und hilft Lehrstellen bereitzustellen, während das Verkehrsministerium den Nahverkehr einschränkt, weil die Bevölkerungszahlen zurückgehen. Jugendliche haben es dann schwer, zu Weiterbildungsstätten oder Lehrstellen zu gelangen. In der Folge ziehen die cleveren unter ihnen fort und die weniger aktiven bleiben zurück. Das Ganze wird dann ein Fall für das Arbeits- und Sozialministerium.
Weil mit diesen Mitteln in praktisch keinem Fördergebiet der letzten 20 Jahre eine demografische Trendwende eingeleitet werden konnte, plädiert das Berlin-Institut in seinem Gutachten für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Schwundregionen. Vor allem in den neuen Bundesländern sollten die verbleibenden zehn Jahre bis zum Auslaufen des Solidarpaktes II für eine radikale Modernisierung der Strukturen genutzt werden.
Für diese Neuorientierung sind folgende Punkte zu beachten:
Erstens muss die Politik die demografische Entwicklung nicht nur als Tatbestand, sondern als Grundlage für alles sozioökonomische Handeln akzeptieren. Sie muss sich in den betroffenen Gebieten von der bisherigen Vorstellung von Wachstum verabschieden, denn alle Bemühungen, Wachstum gegen den demografischen Trend zu fördern, sind gescheitert. Ohnehin sind gesellschaftliche Konzepte für ein Wohlergehen ohne Wachstum für Nationen, die altern und schrumpfen, langfristig notwendig. Die Grenzen des Wachstums offenbaren sich hierzulande nicht – wie lange angenommen – durch einen Ressourcenmangel, sondern durch den demografischen Wandel. Insofern sind Schrumpfgebiete Testfelder für das Europa von morgen.
Zweitens bedeutet Modernisierung in Schrumpfgebieten auf neuen Wegen zu alten Zielen zu kommen. Denn die Ziele der Gesellschaft bleiben gleich: Auch diese Gebiete müssen mit Energie, Trinkwasser und medizinisch versorgt werden, es müssen Schulen und Verkehrsmittel bereit stehen. Da sich die herkömmlichen Angebote für die Infrastruktur aber nicht beliebig verkleinern lassen, ist häufig ein Systemwechsel notwendig. Und der bietet die Chance für eine Neuorientierung. So ist eine Schule nicht als feste Struktur mit vorgegebener Klassengröße und Schülerzahl zu verstehen, sondern als Dienstleistung. Schulen sollen Kinder auf das Leben vorbereiten. Dabei ist es zunächst egal, in welcher Form die Schule daherkommt. Unter dieser Sichtweise werden Zwergschulen möglich, Schulen, die im wöchentlichen Turnus an zwei verschiedenen Orten stattfinden, die Teleunterricht nutzen oder die von einer Zentrale aus mit Lehrern versorgt werden, damit nicht viele Schüler, sondern nur wenige Lehrer pendeln müssen. Mit dieser Flexibilität könnten Schulen, der wichtigste Haltefaktor für Familien, trotz geringerer Schülerzahl vor Ort bleiben.
An Modellprojekten hat sich gezeigt, dass eine ökonomische Erholung in benachteiligten Regionen durch einen Umstieg in eine „solare Wirtschaft“ möglich ist, der üblicherweise als zu teuer gilt und deshalb kaum umgesetzt wird. So ist es einigen Kommunen gelungen, sich durch Biomasse-, Biogas-, Wind- und Sonnenenergie von den Energieversorgern unabhängig zu machen und finanzielle Überschüsse zu erwirtschaften, mit denen sie die Attraktivität für neue Bewohner und neues Gewerbe steigern konnten. In Regionen, denen sich mit klassischen Wachstumskonzepten nicht helfen lässt, kann somit ökologisches Haushalten zu Wohlstand verhelfen.
Drittens präsentieren sich zukunftsweisende Modernisierungskonzepte häufig als Win-win-Situationen: Sie tragen tendenziell auch zur Lösung anderer Probleme bei – sie wirken synergetisch. So hat etwa die dezentrale Energieversorgung mit erneuerbaren Ressourcen neben dem monetären Gewinn den Vorteil, dass sie technologisch fortschrittlich und klimaneutral ist und dass sie mittelfristig auch für größere Regionen, langfristig für das ganze Land geboten ist. Kleine Kommunen können sich beispielsweise energieautark machen, indem sie sich zu einem „virtuellen Kraftwerk“ zusammenschließen. Dabei sollte jede Einzelkommune Energie aus geeigneten Quellen beisteuern – aus Biogas, Biomasse, Sonne, Wind oder Erdwärme. Solche Verbünde sind wenig anfällig für Ausfälle und Schwankungen. Demografische Krisengebiete sind prädestiniert für eine Energieautonomie, weil dort die Versorgung über große Netzsysteme immer teurer wird. Zudem ist es sinnvoll, die Energiewende in kleinen Einheiten zu erproben und Erfahrungen zu sammeln, weil Fehlschläge leichter zu verkraften sind. Krisenregionen können so zu Motoren der Innovation werden und die regionale Wirtschaft beflügeln.
Um diese neuen Wege zu beschreiten ist es viertens notwendig, bestimmte Gesetze und Richtlinien zumindest vorübergehend außer Kraft zu setzen. Eine schlanke Abwasserentsorgung, eine dezentrale Kleinkinderbetreuung und ein innovatives Nahverkehrssystem lassen sich in Schrumpfregionen nicht aufbauen, wenn dabei sämtliche kommunalen, nationalen und EU-weiten Regelwerke und Normen beachtet werden müssen. Die Bürokratie macht Innovationen geradezu unmöglich. Ebenso müssen neue Konzepte vor der Reglementierung der Raumplanung geschützt werden. Zukunftsformen der Versorgung lassen sich nicht raumplanerisch fassen, weil sie sich erst in kreativen Prozessen entwickeln müssen. Neue Konzepte für die Versorgung peripherer Gebiete sind heute noch gar nicht bekannt – sie lassen sich nicht planen, sondern nur ermöglichen. Dafür brauchen die Verantwortlichen möglichst große Freiheiten.
Fünftens benötigen die betroffenen Regionen dafür eine höhere Planungsautonomie. Es ist notwendig, weitreichende Entscheidungskompetenzen auf die Ebene von Bürgermeistern oder Landräten zu verlagern und ihnen auch die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. In Schweden oder Finnland etwa können die Kommunen finanziell autonom über Form und Art der Schulversorgung entscheiden, der Kinder- und Altenbetreuung sowie der medizinischen Grundversorgung. Damit haben die Gemeinden die Schlüssel zur Veränderung der Strukturen und letztlich zur Modernisierung selbst in der Hand. Außerdem fühlen sich die Bürger ernst genommen und sind eher bereit Verantwortung zu übernehmen.
Sechstens muss der „humane Faktor“ weitaus stärker gefördert werden. Gerade in Krisenregionen sind es immer Einzelne, die neue Perspektiven schaffen. Darum gilt es anzuerkennen, dass sich neue Ideen und Konzepte im Allgemeinen nur von unten nach oben entwickeln, und dass dazu die aktive Mitarbeit der Menschen vor Ort nötig ist. Im Zentrum der Entwicklung stehen immer soziale Netzwerke und eine aktive Zivilgesellschaft. So ist es in der Rhön, einer stark vom demografischen Wandel erfassten Region in den alten Bundesländern, dem Erfinder der „Bionade“ gelungen, Hunderte von Arbeitsplätzen zu schaffen, und zwar mit einer Idee, die kein Förderprogramm der Welt hätte ersinnen können. Wo immer in Krisengebieten ziviles Engagement zu beobachten ist, sollten vor allem bürokratische Schranken abgebaut werden, damit sich kreatives Potenzial auch entfalten kann.
Damit angeschlagene Regionen ihr mögliches Potenzial auch zeigen können, bedarf es siebtens einer Förderung über einen Wettbewerb. Für dieses Projekt sind ausschließlich Regionen auszuwählen, die dem Notfalltatbestand „demografisch besonders betroffen“ entsprechen: stark überaltert, deutliche Bevölkerungsverluste, niedriges Bruttoinlandsprodukt und hohe Jugendarbeitslosigkeit. Diese Gebiete haben ironischerweise ein hohes Innovationspotenzial für eine radikale Modernisierung, weil eine Erholung über klassische Entwicklungsprojekte ausgeschlossen ist. Diese Regionen müssen bei einer Bewerbung deutlich machen, dass sie bereit und in der Lage sind, ihre eigenen Belange in die Hand zu nehmen und zukunftweisende Konzepte in den Bereichen Energieversorgung, Schule, Landbau und kleine Kreisläufe, Mobilität oder Gesundheitsversorgung vorzulegen. Es ist zumindest eine Teilförderung über (zinslose) Kredite anzustreben, wobei die Kredite in einen Fonds zurückgezahlt werden, aus dem weitere Projekte finanziert werden. Bei der Planung der Projekte sind Indikatoren festzulegen und Ziele zu definieren. Werden Ziele nicht erreicht, ist ein Scheitern eines Projektes zu akzeptieren und als Lerneinheit zu verbuchen. Diese neue Förderkultur unterbindet eine flächendeckende Förderung mit der Gießkanne beziehungsweise in Abhängigkeit von einer zufälligen politischen Großwetterlage. Sie orientieren sich stattdessen einzig an Erfolgskriterien.
Achtens wird bei diesem Wettbewerb klar, dass es Regionen gibt, die nicht förderbar sind. Zwar lassen sich auch besonders krisengeplagte Räume nicht per se abschreiben oder als verlorene Räume betrachten. Aber sie definieren sich selbst als nicht förderbar, wenn dort keine Innovatoren zu finden sind, die versuchen Zukunft zu schaffen. Mit Subventionen und künstlicher Ansiedlung von Unternehmen ist dort ohnehin nichts auszurichten.
In derartigen Gebieten hat der Staat dennoch die Aufgabe, den Menschen angemessene Hilfe zu leisten. Dies sollte sich aber auf eine existenzielle Daseinsvorsorge beschränken – wie Notfallrettung, Erreichbarkeit für Ordnungskräfte in angemessener Frist, pflegerische Versorgung von Hochbetagten, Telefon- und Internetanschluss. Solche Regionen können zwar eine eigene Attraktivität für „Raumpioniere“, für künstlerische und soziale Experimentatoren entwickeln. Darüber hinaus sollte man sich aber angesichts fehlender Perspektiven von einer „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ verabschieden.
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