Vom Falschen zu viel – Ernährungsprobleme in Europa
Parallelforum IV: Health Determinants – Nutrition and Food
Rinderwahnsinn und die Creutzfeld-Jacob-Krankheit, die Maul- und Klauenseuche und Nitrofen im Putenfleisch und im Getreide. Die Lebensmittelskandale der letzten Jahre haben die Europäer für die Qualität ihrer Nahrungsmittel sensibilisiert. Über ihr alltägliches Essverhalten scheinen sich allerdings viele kaum Gedanken zu machen – anders als die Experten des Parallelforums VI“Gesundheitsdeterminanten – Ernährung und Lebensmittelpolitik“ am Donnerstag, 26. September des 5. European Health Forums.
Die Zahlen sind alarmierend: Beinahe dreißig Prozent der frühzeitig Verstorbenen unter 65 Jahren starben an Krebs, viele andere an Bluthochdruck, Übergewicht oder erhöhten Cholesterinwerten. „Durch richtige Ernährung ließen sich zahlreiche Tode vermeiden,“ glaubt Anna Ferro-Luzzi, die Direktorin des WHO Collaboration Centre on Nutrition in Rom. Tatsächlich gebe es hundert Mal mehr Tote durch unausgewogene Ernährung als durch vergiftete Nahrung, bestätigte Camilla Sandvik von der Universität Oslo, die sich bis Ende August bei der Europäischen Kommission mit dem Thema befasst hat.
Nicht nur ein Problem in Entwicklungsländer
Den Europäern fehlt oft das Bewusstsein dafür, dass Ernährung auch in hochentwickelten Ländern ein Problem ist. „Ungesunde Ernährung und die daraus resultierenden Krankheiten sind eine große Belastung – nicht nur für Entwicklungsländer,“ stellte Karen Lock von der London School of Hygiene and Tropical Medicine fest. Die Wissenschaftlerin arbeitet derzeit für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an einer Studie, die die globale Belastung von ernährungsbedingten Krankheiten messen soll. Im Gegensatz zur Vorgängerstudie, der ersten „WHO Global Burden of Disease Study“ von 1990, haben Lock und ihre Kollegen den Risikofaktor Fehlernährung in mehrere Unterkategorien aufgespaltet. Durch Kategorien wie niedriger Obst- und Gemüseverzehr, Fettleibigkeit oder Untergewicht gelangten die Forscher zu detaillierteren Ergebnissen als ihre Vorgänger. In vier Wochen soll die Studie veröffentlicht werden. Eine Überraschung verriet Lock schon in Gastein: „Der mangelnde Verzehr von Obst und Gemüse hat einen viel größeren Einfluss auf die Gesundheit als jeder von uns gedacht hätte.“
Derek Yach, bei der WHO zuständig für nicht übertragbare und mentale Krankheiten, bestätigte Lock, indem er neue Ergebnisse aus dem nächsten WHO-Berichts umriss. „Die letzte Konsequenz besteht darin, dass Krankheiten, die durch Ernährung und Bewegungsmangel verursacht werden, dominieren. Hier sollten wir ansetzen.“ Die WHO überarbeite derzeit ihre Arbeit über Ernährung und die damit verknüpften Risikofaktoren und entwickle neue Richtlinien. „Wir haben einen Beratungsprozess in Gang gesetzt, um bis 2004 eine weltweite WHO-Strategie zur Ernährung, Gesundheit und gegen Bewegungsmangel zu entwickeln,“ erläuterte Yach. An seine Kollegen und seine eigene Organisation appellierte er, zusammenhängende Forderungen zu stellen. Wer beispielsweise eine fettarme Ernährung fordere, müsse darauf achten, dass die Nahrungsmittelindustrie Fette nicht einfach durch Zucker ersetze.
Memos für EU und Regierungen
Die Ursachen für ernährungsbedingte Krankheiten sind komplex. In den Medien werden diese Zusammenhänge oft unzureichend dargestellt, bemängelte Yach. „Oft trennen sie die Themen und berichten über Zucker oder Fett oder Bewegungsmangel.“
Schwierigkeiten gibt es auch immer wieder mit Regierungen. Aileen Robertson drückt es diplomatisch aus: „Die Regierungen wechseln oft, weshalb sie bisweilen an die Ernährungspolitik erinnert werden müssen.“ Dass eine derartige Politik sehr erfolgreich sein kann, belegen die Zahlen aus Finnland. Die Quote der Herzkrankheiten Russlands ähnelt der von Finnland in den Siebziger Jahren. Hier konnte sie signifikant gesenkt werden,“ erklärt Robertson. Allerdings müsse auch im Gesundheitssektor selbst noch viel getan werden. Für die nationalen Regierungen hat die Europa-Abteilung der WHO das CINDI Programm herausgegeben. CINDI steht für „countrywide integrated noncommunicable disease intervention”, in dem Ernährungspolitik die zentrale Maßnahme ist, um nicht übertragbare Krankheiten zu verhindern und zu kontrollieren. „Darüber hinaus ist es unsere Pflicht, die Europäische Kommission nicht vergessen zu lassen, dass sie eine sehr klare Richtlinie besitzen“, unterstrich Robertson.
Die gesamte Arbeit der Europäischen Kommission im Ernährungsbereich basiert auf Artikel 152 (Gesundheitswesen) im Vertrag von Amsterdam, der im Mai 1999 in Kraft getreten ist. Allerdings müsse man berücksichtigen, dass die Maßnahmen der EU oft durch die nationale Gesetzgebung beschränkt werden, stellte Camilla Sandvik fest, bis vor kurzem bei der Europäischen Kommission. „Deshalb besteht die Arbeit der Kommission im Grunde aus Gesundheitsforderung und dem Verhindern von Krankheiten.“ Sie stellte eine Reihe von Maßnahmen vor, die die Europäische Kommission finanziert oder teilfinanziert hat, darunter Eurodiet (2000), die French Initiative (2000) oder das White Paper on Food Safety (2000). „Zwar ist der Aktionsplan für Ernährung bislang noch nicht veröffentlicht, doch die Dokumente existieren und bilden die Basis für die Arbeit im Ernährungsbereich“, unterstrich Sandvik. Darüber hinaus seien in diesem Jahr Ernährungs-Web-Seiten online gegangen und Projekte gegen Fettleibigkeit und für das Stillen angelaufen. Sandvik ging außerdem auf problematische Querverbindungen ein, wie beispielsweise die Empfehlung von Ernährungsexperten, mehr Fisch zu essen und den Mangel an Fisch. „Wie können wir die Leute auffordern, mehr Fisch zu essen, wenn es gar nicht genug davon gibt?“ fragte Sandvik. Zuerst müsse das Fischereiwesen reformiert werden, anders machten die Maßnahmen keinen Sinn.
Gefälle von West nach Ost
Nicht nur mit der Fischerei sondern mit dem gesamten Landwirtschaftsbereich befasste sich Liselotte Schäfer Elinder in ihrem Vortrag. Sie erläuterte die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), dem Bereich innerhalb der gesamten EU, der den größten Teil des Budgets verschlingt. Neunzig Prozent davon gibt die EU für Subventionen aus. „Das bewirkt, dass der Preis von Nahrungsmitteln in der EU hoch ist, viel höher als auf dem Weltmarkt“, erläuterte Schäfer Elinder. Dass der Preis und die Verfügbarkeit von Lebensmitteln eine sehr wichtige Rolle bei der Ernährung spielen, beweisen die Mittelmeerländer. Weil hier Obst billig und Milchprodukte teuer sind, ernähren sich alle Bevölkerungsgruppen relativ gesund, während im Rest von Europa vor allem die gebildeteren Menschen viel Obst und Gemüse essen.
Einen deutlichen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Gesundheit der Bevölkerung sah auch Jozica Maucec Zakotnik. In ihrem Vortrag lenkte die Staatssekretärin des slowenischen Gesundheitsministerium den Blick Richtung Osteuropa. Das Gefälle zwischen West- und Osteuropa zeige sich in kleinerem Maßstab auch in den Regionen ihres Landes. In ihrem Ministerium versucht Maucec Zakotnik dieses Problem mit einem Bündel von Maßnahmen zu lösen, darunter die Entwicklung einer Nahrungssicherheitsstrategie (Food Safety Strategy), Ernährungs- und Lebensmittelaktionspläne von 2003 bis 2008 und die Einrichtung eines Lebensmittel und Ernährungsrates (Food and Nutrition Council). „Es ist sehr wichtig für Politiker und Strategen, die Determinanten herauszufinden, die die Gesundheit beeinflussen, und diese immer wieder auf die Agenda zu setzen.“ Die besonderen Sorgen des Agrarbereichs erläuterte der österreichische Agrarökonom Helmut Eder von der Division for European Integration Policy and Common Agricultural Policy. „Es ist nicht wahr, dass die Subventionen den Weltmarkt stören“, meinte er.
Zeit für Taten
Im Parallelforum „Gesundheitsdeterminanten – Ernährung und Lebensmittelpolitik“ kamen aber nicht nur Wissenschaftler und Politiker zu Wort. Auch die Lebensmittelindustrie war vertreten. Dominique Taeymans vom Europäischen Zusammenschluss der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie (CIAA) glaubt, dass vor allem die Lebensmittelsicherheit eine „echte Herausforderung“ sei. Von der Ernährungspolitik der EU fordert er, dass sie „eine ausgewogene Ernährung als Teil eines gesunden Lebenstils fördert.“ Dennoch sollte sie kulturelle und regionale Unterschiede respektieren und den Konsumenten die freie, informierte Entscheidung überlassen. Eine Gegenposition formulierte Tim Lobstein von der britischen International Organisation for Consumer Food Organisations. Er vertritt die Ansicht, dass eine Richtungsänderung hin zu gesünderer Ernährung bedeute, die gegenwärtige Praktiken der große wirtschaftlichen Interessen zu verändern. „Kampagnen können den politischen Druck hin zu Taten verstärken.“
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