Wassereis ist nicht gleich Wassereis: RUB-Forscher klären wie sich Eis unter Druck verdichtet
Unter extrem hohem Druck verändert gewöhnliches Wassereis seine Struktur fundamental: Es entsteht besonders dichtes Eis, in dem die starken Bindungen innerhalb des Wassermoleküls und die schwachen zwischen den Wassermolekülen gleichwertig sind. Bei welchem Druck dies geschieht und wie der Prozess abläuft, konnten internationale Forscher um Prof. Dr. Dominik Marx (Lehrstuhl für Theoretische Chemie der RUB) nun erstmals anhand theoretischer Berechnungen zeigen. Ihre Ergebnisse veröffentlichen sie in der aktuellen Ausgabe der Physical Review Letters.
Nur eine Variante: Eis aus dem Kühlschrank
Das Eis aus dem Kühlschrank, so wie es beim Gefrieren von Wasser entsteht, ist nur eine Form von „Wassereis“: So wie Kohlenstoff als schwarzer Graphit aber auch als glasklarer Diamant vorkommen kann, so kann auch Eis in vielen sog. Modifikationen auftreten. Mittlerweile sind bereits mehr als zehn verschiedene Kristallformen von Eis bekannt; das Eis im Kühlschrank nennt die Wissenschaft Eis I_h. Es gehört zu den sog. „molekularen Eisformen“, die aus intakten H2O Molekülen aufgebaut sind. Sie bestehen aus zwei Wasserstoffatomen, die über je eine starke chemische („kovalente“) Bindung mit einem Sauerstoffatom verbunden sind. Zusätzlich sind die Wasserstoffmoleküle selbst über die viel schwächeren und längeren Wasserstoffbrückenbindungen miteinander verknüpft und bilden somit eine Art Netzwerk im dreidimensionalen Raum. Wasserstoffbrückenbindungen sind außerordentlich wichtige Bindungen, die z.B. der DNA ihre berühmte Doppelhelixform geben oder auch Eiweißstoffe „in Form“ halten.
Jahrzehntelange Spekulationen ums Eis X
Die Frage, was mit diesem Wasserstoffbrückennetzwerk passiert, wenn man Eis durch Anwendung äußeren Drucks stark zusammendrückt, hat die Wissenschaftler seit langer Zeit beschäftigt und zu Spekulationen veranlasst. Vor etwa 25 Jahren spekulierten sie aus theoretischen Überlegungen heraus, dass der Unterschied der kovalenten Bindungen und der Wasserstoffbrückenbindungen beim Komprimieren des Eises immer geringer würde. Im Grenzfall, so die Vermutung, sollte der Unterschied sogar völlig verschwinden. Diese Eisform taufte Prof. Wilfried Holzapfel „Eis X“ (X im Sinne der römischen Zahl 10), eine Bezeichnung, die bis heute gebräuchlich ist.
Die Jagd nach Eis X und kontroverse Funde
Danach begann die „Jagd“ nach dem Eis X, die ein Vierteljahrhundert dauerte. Erst gegen Ende der neunziger Jahre ergaben Experimente in Hochdruckzellen, den sog. Diamantstempelzellen, deutliche Hinweise auf Eis X. In solchen Zellen können Drücke erreicht werden, wie sie im Erdinnern herrschen. Weltweit konnten bis jetzt nur drei Laboratorien in Japan, den USA und Frankreich solche Experimente erfolgreich durchführen. Sie führten aber prompt zu unterschiedlichen Ergebnissen bzw. Interpretationen. Die Ergebnisse einer der drei Arbeitsgruppen ergab einen deutlich höheren Druck, ab dem Eis X entsteht und zudem noch die Existenz einer weiteren, bisher unbekannten Phase von Eis. Das Phasendiagramm von Wasser, also die Stabilitätsbereiche der verschiedenen Eisformen in Abhängigkeit von Druck und Temperatur, ist von großer Bedeutung in vielen Bereichen der Wissenschaft wie z.B. in der Astrobiologie oder in den Planetenwissenschaften.
Endlich Klarheit durch treffende Simulationen
Mit den theoretischen Methoden, die der Lehrstuhl für Theoretische Chemie der Ruhr-Universität entwickelt und einsetzt, konnte nun in Zusammenarbeit mit Dr. Magali Benoit (Montpellier, Frankreich) und Dr. Aldo Romero (Santigao, Chile) die Kontroverse geklärt und der damit verbundene Streit beigelegt werden. Aufwändige quantenmechanische Computersimulationen der Experimente bei Zimmertemperatur gaben erste Hinweise, dass die Interpretation der Daten der einen Gruppe womöglich nicht ganz korrekt war. Die Bochumer Rechnungen veranlassten die Experimentatoren, ihre alten Daten neu auszuwerten – und diese Neuauswertung zeigte klar, dass man beim ersten Mal von irreführenden Modellannahmen ausgegangen war. Die sehr realistischen Computersimulation stimmten hingegen überzeugend mit den neuen Messergebnissen überein. Damit belegen alle drei Experimente nun die Theorie über die Existenz von Eis X – die Kontroverse hat sich in Wissen verwandelt. Leider haben sich somit die Hoffnungen auf eine weitere, exotische Phase von Eis „jenseits von Eis X“ aber auch in Luft aufgelöst.
Berechnungen zeigen erstmals den Prozess im Detail
Aber die Rechungen haben noch mehr in sich: Sie zeigten sehr detailliert, wie genau molekulares Eis in Eis X übergeht, d.h. wie sich Wasserstoffbrückenbindungen und kovalente Bindungen aufgrund des äußeren Drucks angleichen. Dies passiert über eine Art von Eis, bei dem die Wasserstoffatome quasi „nicht mehr wissen, zu welchem Sauerstoffatom sie gehören“, was dazu führt, dass sie dauernd zwischen ihren beiden Nachbarn hin und her hüpfen. Dies wäre eine sehr dynamische Form von Eis, die sich somit nicht mehr den berühmten statischen „Eisregeln“ fügt, die Linus Pauling u.a. in den 1930er-Jahren ausgearbeitet haben. Andere Wissenschaftler haben bereits spekuliert, dass diese unkonventionellen Formen der Wasserstoffbrückenbindungen, wie sie bei Eis unter hohem Druck erzeugt werden, eine wichtige Rolle z.B. bei solchen Enzymkatalysen spielen könnten, bei denen Wasserstoffbrücken und -transfer an biochemischen Prozessen beteiligt sind.
Titelaufnahme
Magali Benoit, Aldo H. Romero and Dominik Marx: Reassigning Hydrogen-Bond Centering in Dense Ice. In: Physical Review Letters, Band 89, Nr. 14, Seite 145501, (2002)
Weitere Informationen
Prof. Dr. Dominik Marx, Lehrstuhl für Theoretische Chemie, Fakultät für Chemie der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum, Tel. 0234/32-28083, Fax: 0234/32-14045, Email: dominik.marx@theochem.ruhr-uni-bochum.de,
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