Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert Studie "Europa als Werte- und Rechtsgemeinschaft"

Studie zeigt Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit: Europa als Werte- und Rechtsgemeinschaft.

„Nationalsozialismus darf in Europa nicht geduldet werden“, darin sind sich die europäischen Zeitungen einig – aber wie sich verhalten, wenn Rechtspopulisten durch demokratische Wahlen an die Regierungsmacht gelangen? Ausgrenzen? Oder doch tolerieren? Die Reaktionen der europäischen Öffentlichkeit auf den spektakulären Wahlsieg von Jörg Haider und seiner „Freiheitlichen“ Partei Österreichs (FPÖ) bei den Nationalratswahlen 1999 in Österreich untersuchten jetzt Wissenschaftler im Rahmen einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Studie.

Die Empörung ist buchstäblich grenzenlos gewesen. 27,2 Prozent der Wählerstimmen errangen der Rechtsaußen Haider und seine Partei bei den österreichischen Nationalratswahlen im Oktober 1999. Als zweitstärkste Partei des Landes bildete daraufhin die FPÖ zusammen mit der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) eine neue Bundesregierung. Über die Machtbeteiligung der Rechtsextremen schlugen nicht nur in Österreich, sondern auch in den anderen europäischen Staaten die Wogen der Entrüstung hoch. Es wurden drastische Maßnahmen gefordert und schließlich europäische Sanktionen gegen den Alpenstaat verhängt. Zur Normalisierung der Beziehungen führte erst das Gutachten einer von der EU entsandten Kommission, die zu klären hatte, ob die österreichische Republik noch auf dem gemeinsamen Fundament der Europäischen Union steht. Die Diskussion über Haiders Wahlsieg entwickelte sich dabei zunehmend zur Frage: „Was einigt Europa?“

Die Berichterstattung über die Haider-Debatte diente gewissermaßen als „soziologischer Lackmustest“ für die Untersuchung der europäischen Öffentlichkeit durch Prof. Thomas Risse von der Freien Universität Berlin und seinen Kollegen Prof. Bernd Giesen von der Universität Konstanz. Über alle Ländergrenzen hinweg konnten sie zwei Hauptströmungen bei der Darstellung der Debatte in den europäischen Zeitungen feststellen. Von einem großen Teil der öffentlichen Meinung wird Europa als Wertegemeinschaft betrachtet, und diese Werte sollen verteidigt werden. „Im Zeitalter der Europäischen Integration, der gemeinsamen Werte und der gemeinsamen Überzeugungen, hat die Machtbeteiligung von Jörg Haiders „Freiheitlichen“ Konsequenzen, die weit über die politischen Auseinandersetzungen in Wien hinausgehen“, schreibt beispielsweise ’De Standart’ aus Belgien. Welche spezifisch europäischen Werte die Anhänger dieser Ansicht genau meinen, bleibt jedoch meist im Unklaren. Stattdessen sprechen sie von allgemeingültigen Prinzipien, wie Demokratie, Menschenrechten und antifaschistische Gesinnung. Nach Auffassung dieser werteorientierten Berichterstatter kann das Aufkommen von Haider und seiner Partei nicht hingenommen werden, weil sich die „Freiheitlichen“ nicht von Nationalsozialismus und Ausländerhass distanzieren. Harte Sanktionen gegen Österreich forderten sie deshalb, denn Rechtsradikale stehen außerhalb der gemeinsamen Europäischen Werte.

Andere Zeitungen hingegen, sehen die Gemeinschaft im Wesentlichen als einen einheitlichen Rechtsraum, den es zu schützen gilt. Wichtig sei, dass die gemeinsamen Verträge und formalen Vereinbarungen, also die Spielregeln eingehalten werden. Der Amsterdamer Vertrag soll dabei den Umgang mit problematischen Regierungen, wie der österreichischen, regeln. Dort ist festgelegt, dass ein Staat mit Sanktionen belegt wird, wenn er massiv den Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zuwiderhandelt. Solange die Alpenrepublik jedoch nicht gegen die gemeinsamen Gesetze verstößt, sollten auch keine Sanktionen erfolgen.

Ob bürgerliches oder links orientiertes Blatt, ob Qualitätszeitung oder Boulevard, die Studie bewertete Zeitungen aus Belgien, Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien nach bis zu 22 unterschiedlichen Gesichtspunkten. In den vier aussagekräftigsten Kernbereichen: „Europa – Eine Gesellschaft mit moralischer Verpflichtung“, „Europa – ein gemeinsamer Rechtsraum“, „Nazivergangenheit“ und „Rassistischer Ausländerhass“ ergab sich dabei eine auffällig hohe Übereinstimmung in der Art der Berichterstattung. Aus der sehr ähnlichen Argumentation, unabhängig vom Erscheinungsland, schließen die Wissenschaftler, dass zumindest in diesem Fall eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit mit gemeinsamen Bewertungskriterien für politische Streitfälle existierte.

„Werteorientierte“ und „Legalisten“ bestimmten in der Haider-Debatte die Diskussion. Interessenkonflikte zwischen EU und den Nationalstaaten spielten dagegen kaum eine Rolle. Unabhängig von ihren sonstigen Überzeugungen waren sich die untersuchten Zeitungen in den fünf Mitgliedsstaaten einig: Bei der Haider-Debatte geht es um die europäische Identität als Werte- und Rechtsgemeinschaft. Ein Rückfall in Zeiten, in denen Rassismus und Fremdenhass durch Europa wüteten, muß verhindert werden. Die Fehler der Nationalstaaten vor der NS-Zeit dürfen sich nicht wiederholen. Rechtsparteien, wie die FPÖ, stehen jedoch noch heute in der Tradition dieser unseligen Vergangenheit. „Die Waffen – SS war Teil der Wehrmacht und hat daher die selbe Ehre und den selben Respekt verdient wie die Armee“, zitiert die französische ’Le Monde’ Haider. Doch je intensiver der österreichische Rechtsaußen als Nazi und Bedrohung wahrgenommen wird, um so deutlicher erkennt Europa im Antirassismus einen grundlegenden und einigenden Wert.

Informationen erteilt:

Prof. Dr. Thomas Risse
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin
Ihnestr. 22, 14195 Berlin
Tel.: 030 / 838-55527
Fax: 838-54160
E-Mail: risse@zedat.fu-berlin.de

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Arnulf Wieschalla idw

Weitere Informationen:

http://www.fu-berlin.de/atasp

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