"Liberalisierungsindex Bahn" zeigt Marktöffnungsgrad der Schiene
Nach zehn Jahren Binnenmarkt in Europa steht die Liberalisierung der Schiene noch immer am Anfang. Lediglich in fünf EU-Mitgliedstaaten sowie in der Schweiz ist der Marktöffnungsprozess bislang gut vorangekommen. Die anderen EU-Staaten bieten dagegen nur restriktive oder gar keine Marktzugangsmöglichkeiten für neue Eisenbahnverkehrsunternehmen.
Diese Asymmetrien führen zu Wettbewerbsverzerrungen und hemmen die Vollendung des Binnenmarktes im Eisenbahnverkehr. Die Wettbewerbsverzerrungen resultieren aus dem unterschiedlichen Tempo der Öffnung der europäischen Schienennetze.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie, die die IBM Business Consulting Services mit Professor Christian Kirchner, Humboldt-Universität Berlin, im Auftrag der Bahn erstellt hat. Die am Mittwochabend in Brüssel vorgestellte Studie stellt ein Novum im Eisenbahnsektor dar. Die vergleichende Untersuchung verdichtet standardisierte Kriterien zum aussagekräftigen „Liberaliserungsindex Bahn“ („Lib-Index“), der den jeweiligen Marktöffnungsgrad unter dem Aspekt des praktischen Netzzugangs im europäischen Schienenverkehr transparent und vergleichbar macht. So können Schwachstellen bei der Liberalisierung der Schiene in den 15 EU-Mitgliedstaaten sowie in der Schweiz und in Norwegen gezeigt und auch Rückschlüsse dazu gezogen werden, wie sich unterschiedliche ordnungspolitische Konzepte der Mitgliedstaaten in der Offenheit der Märkte widerspiegeln.
Hartmut Mehdorn, Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Bahn: „Die Studie zeigt, dass eine Trennung von Netz und Betrieb nicht entscheidend ist für die Öffnung der Märkte. Ausschlaggebend ist in der Praxis vielmehr, dass die Mitgliedstaaten faire und transparente Netzzugangsprozesse garantieren.“
Ziel der Studie ist es, der verkehrspolitischen Diskussion eine unabhängige und fundierte Wissensgrundlage zu verschaffen. Der Lib-Index konzentriert sich aus Sicht zutrittswilliger Eisenbahnverkehrsunternehmen auf die Analyse der Offenheit der Märkte. Er untersucht nicht, welcher nationale Liberalisierungsansatz besser oder ab welchem Punkt ein Eisenbahnmarkt komplett liberalisiert ist. Stichtag der Untersuchung war der 1. Oktober 2002.
Der erste Lib-Index zeigt, dass die Liberalisierung der Schiene noch am Anfang steht. Drei Themengebiete, die für Eisenbahnverkehrsunternehmen von essentieller Bedeutung bei der Gestaltung ihrer Geschäftspläne sind, wurden untersucht und über drei Teilindizes abgebildet:
- Die nationalen Gesetzesgrundlagen, die für den Marktzugang Dritter Eisenbahnverkehrsunternehmen maßgeblich sind (Lex-Index),
- die praktischen Markteintrittsschranken und Kosten wie Lizenzvergabe, Trassenpreissysteme, Netzzugangsregime oder Zugang zu Serviceleistungen (Access-Index),
- und die Marktdynamik (Com-Index)
Im Ergebnis beschreibt die Studie zum aktuellen Stand der Marktöffnung in den 17 untersuchten Ländern (EU-Mitgliedstaaten sowie Schweiz und Norwegen) drei sehr unterschiedlich weit fortgeschrittene Gruppen.
Die erste Gruppe, bestehend aus Großbritannien, Schweden, Deutschland, den Niederlanden, Dänemark und der Schweiz, ist bei dem Prozess der Marktöffnung gut vorangekommen, aufkommender Wettbewerb kann hier nachgewiesen werden. In dieser Gruppe wird die Marktöffnung mit unterschiedlichen Ansätzen ähnlich erfolgreich realisiert.
Dagegen ist in den Ländern der anderen beiden Gruppen ein Markteintritt neuer Eisenbahnverkehrsunternehmen noch mit erheblich höheren Problemen behaftet oder sogar ganz ausgeschlossen. So ist die Marktöffnung der zweiten Gruppe, bestehend aus Italien, Österreich, Finnland, Belgien, Norwegen, Portugal und Frankreich gegenüber der ersten Gruppe schon wesentlich geringer. In den Ländern der dritten Gruppe, also in Irland, Luxemburg, Griechenland und Spanien, ist der Liberalisierungsprozess bisher so gut wie nicht eingeleitet geworden.
In der ersten Gruppe stellt Großbritannien derzeit den liberalisiertesten Eisenbahnmarkt in Europa dar, weil die Transportleistungen ausschließlich von privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen erbracht werden. Auch in Schweden und Deutschland ist die Liberalisierung weit vorangeschritten. Obwohl in diesen Ländern sehr unterschiedliche Reformkonzepte verfolgt wurden, haben beide einen ähnlichen Marktöffnungsgrad erreicht – ein Beispiel für funktionierenden regulatorischen Wettbewerb. Während Deutschland auf die integrierte Bahn mit reguliertem Netzzugang setzt, hat Schweden eine vollständige institutionelle Trennung der Staatsbahn (SJ) vollzogen. SJ befindet sich aktuell in einer schweren Finanzkrise.
Die Niederlande und Dänemark haben in den letzten Jahren ebenfalls viel unternommen, um Dritten Eisenbahnverkehrsunternehmen den Markt-eintritt zu ermöglichen. Auch sie haben einen vergleichbaren Liberalisierungsstand erreicht und besitzen einen deutlichen Abstand zur Schweiz, die sich in der ersten Gruppe aufgrund ihrer effizienten Prozesse bei der Vermarktung von Güterverkehrstrassen (Analyse beschränkte sich auf SBB und BLS-Netz) befindet. Der Personenfern- und Regionalverkehr ist jedoch für neue Eisenbahnverkehrsunternehmen in der Schweiz nahezu geschlossen, während in den anderen Ländern der ersten Gruppe Eisenbahnverkehrsunternehmen Zugang zu diesen Märkten haben.
In der zweiten Gruppe hat Italien sein Schienennetz durch das Gesetz 388 aus dem Jahr 2000 am weitesten geöffnet. Strukturen, die Eisenbahnverkehrsunternehmen einen Marktzugang ermöglichen, bestehen bereits oder sind im Aufbau. Frankreich und Österreich sind trotz Ihrer Bedeutung für die Transeuropäischen-Netze (TEN) nicht in die erste Gruppe gelangt. Ihre Politik der Marktöffnung ist relativ restriktiv.
Alle anderen Länder der zweiten und dritten Gruppe haben ebenfalls restriktive bzw. keine Marktzugangsmöglichkeiten für neue Eisenbahnverkehrsunternehmen.
Mehdorn: „Die Europäische Kommission darf nicht nur den Wettbewerb für die wenigen fortschrittlichen Länder immer weiter regulieren. Sie muss jetzt endlich dafür sorgen, dass der Netzzugang gleichmäßig und europaweit in allen Mitgliedstaaten auch umgesetzt wird.“
Der Lib-Index soll in regelmäßigen Intervallen fortgeschrieben werden. Es ist geplant diese Arbeit auch auf die EU-Beitrittsländer auszuweiten.
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