Forscher auf der Spur des Cocktail-Party-Effekts – Vier Millionen Euro für die Neurowissenschaften


VolkswagenStiftung bewilligt in ihrer Kuratoriumssitzung am 9. März insgesamt rund 17 Millionen Euro für neue Forschungsvorhaben.

Sie kennen das: Sie stehen auf einer Party, um Sie herum ein hoher Geräuschpegel, und eigentlich versteht man nicht einmal das eigene Wort, geschweige denn das seines Gegenübers. Plötzlich hören Sie durch das Stimmengewirr Ihren Namen, vielleicht von weit her. Was Sie nun schlagartig neugierig macht (oder unruhig: Wer hat da wo was
über mich erzählt?), wird von Wissenschaftlern als „Cocktail-Party-Effekt“ bezeichnet – und bereitet jenen ganz anderes Kopfzerbrechen. Dieses wissenschaftliche Kopfzerbrechen wurde der VolkswagenStiftung in Antragsform nun so überzeugend dargeboten, dass sie innerhalb ihres neurowissenschaftlichen Förderschwerpunkts gleich zwei Kooperationsprojekte unterstützt, die diesem Phänomen nachgehen – eines angesiedelt an den Standorten Magdeburg, Darmstadt und Ulm, das andere an den Universitäten in Aachen und Jerusalem.

Hinter dem Cocktail-Party-Effekt – gemeint ist also die Trennung eines bestimmten akustischen Musters, wie eben einer einzelnen Stimme, vor einem ähnlichen akustischen Hintergrund – steckt ein komplexer kognitiver Vorgang. Bei diesem Prozess werden verschiedene akustische Komponenten zunächst miteinander verbunden, dann von den überlagernden Stimm-mustern anderer Sprecher abgetrennt und schließlich individuell verfolgt. Geht diese Fähigkeit verloren, kann das ein erster Hinweis auf einen fortschreitenden Hörverlust sein; eine Beeinträchtigung, die etwa in einem
Audiogramm (noch) nicht zu erkennen wäre. Wie wichtig es ist diesen „Cocktail-Party-Effekt“ zu erforschen, liegt auf der Hand. Umso mehr, als diesbezüglich auftretende Störungen vor allem bei jungen Menschen zunehmend beobachtet werden und sich eine weitere Verschlechterung des Hörvermögens durch frühzeitiges Training positiv beeinflussen lässt. Auch für die Entwicklung besserer Hörhilfen könnten die Untersuchungen hilfreich sein, denn gerade für Menschen mit den marktüblichen Hörgeräten sind komplexe akustische Situationen oft schwer zu bewältigen.

Die Forschergruppen, die dieser wissenschaftlichen Fragestellung in unterschiedlichen Ansätzen nachgehen, sind zum einen Professor Dr. Henning Scheich vom Special Laboratory Non-invasive Brain Imaging und Dr.
Holger Schulze vom Department Auditory Plasticity and Speech des
Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg, Professor Dr. Gerald Langner vom Institut für Zoologie der Technischen Universität Darmstadt sowie Professor Dr. Günther Palm von der Abteilung Neuroinformatik der Universität Ulm. Ihr Thema: „Cocktail party effect: mechanisms and plasticity of acoustic signal binding and segregation“. Die vier Wissenschaftler erhalten gemeinsam für einen Zeitraum von drei Jahren 856.000 Euro.
Ihr Fernziel ist es potenzielle Rehabilitationsstrategien zu entwickeln. Mit 370.000 Euro von der VolkswagenStiftung unterstützt wird zum anderen das Forschungsvorhaben „The cocktail party effect: the role of spatial configuration of sound sources“. Die hier beteiligten Wissenschaftler sind Professor Dr. Hermann Wagner vom Institut für Biologie II der RWTH Aachen sowie Dr. Israel Nelken vom Department of Physiology und Dr. Merav Ahissar vom Department of Psychology der Hebrew University of Jerusalem.

Die zum bislang letzten Stichtag bei der VolkswagenStiftung in diesem Schwerpunkt – „Dynamik und Adaptivität neuronaler Systeme“ – eingereichten Anträge waren insgesamt außerordentlich überzeugend: Neun von zehn Vorhaben wurden bewilligt: eine seltene Quote. Über zwei andere Förderungen im Bereich der Neurowissenschaften informieren wir Sie im weiteren Verlauf dieser Pressemitteilung. Zunächst ein paar Highlights aus den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften.

Das Kuratorium der VolkswagenStiftung bewilligte auch zwei weitere Vor-haben in dem Mitte 1998 eingerichteten Programm „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“. Mit dem Thema „Wissenschaft im Umbruch – Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ beschäftigt sich ein Forscherteam am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld unter Federführung von Professor Dr. Peter Weingart gemeinsam mit Professor Dr. Paul Hoyningen-Huene von der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik der Universität Hannover.
Ihr Vorhaben weist ins kommende Jahrtausend: in die proklamierte
„Wissensgesellschaft“. Den Forschern geht es dabei jedoch weniger um das Alltags-, sondern mehr um das wissenschaftliche Wissen, das sich nach allgemeiner Überzeugung durch eine höhere Verlässlichkeit auszeichnet und als „vertrauenswürdig“ gilt. Problematisch ist, dass die rasante Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnis zwar der Gesellschaft zugute kommt, zugleich aber auch mehr Unsicherheit und Ungewissheit mit sich bringt – bis hin zu Enttäuschungen angesichts überzogener Erwartungen. Und: In der Konkurrenz um wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn tritt die pragmatisch angelegte Suche nach Lösungen für einzelne Fragen durch Versuch und Irrtum zunehmend an die Stelle grundlegender Durchdringung der Probleme. All das findet statt unter Beobachtung der Medien, die Diskrepanzen stärker als früher zu Tage treten lassen. Vor diesem Hintergrund ist es generelles Ziel der beteiligten Wissenschaftler zu überprüfen, ob es in der Rück- und Wechselwirkung dieser Bedingungen zu einer Beeinflussung des Wissenschaftssystems selbst kommt – was dann wiederum Auswirkungen auf die „Wissensgesellschaft“ haben würde. In verschiedenen Teilprojekten geht es dabei um die Strukturen des Wissens (am Beispiel der Supraleitung und Fusionsforschung), die Veränderungen in der Wissensgewinnung in Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit (am Beispiel der Klimaforschung und der Populationsgenetik), um die zunehmende Bedeutung von Realexperimenten (Beispiel: Abfallwirtschaft) und von Trans- und Interdisziplinarität sowie um die Arbeitsweisen von Ethikkommissionen, die konfliktträchtige Entwicklungen zu verfolgen und zu bewerten haben. Vorgesehen sind im Verlauf der geplanten dreijährigen Förderungsdauer auch vier öffentliche Symposien. Die VolkswagenStiftung unterstützt das Vorhaben mit 905.000 Euro.

Als zweites „Schlüsselthema“ in den Geisteswissenschaften wird über einen Zeitraum von zunächst drei Jahren mit 620.000 Euro das Kooperationsprojekt „Erinnerung und Gedächtnis“ gefördert. Im Zentrum des Vorhabens steht das „autobiographische Gedächtnis“; also der sich erinnernde Mensch, der auf eine Episode seines Lebens zurückblickt und diese in sein aktuelles Bild von sich einfügt. Dem autobiographischen Gedächtnis wird eine große Bedeutung beigemessen, da es im Kontext einer zunehmend individualisierten Gesellschaft sicherstellt, dass der Einzelne über ein zusammenhängendes Selbstbild und festes Identitätsgefühl verfügt, mit deren Hilfe er sich auf der Grundlage vergangener und gegenwärtiger Erfahrungen in die Zukunft orientieren kann. Die Frage ist, wie dieses autobiographische Gedächtnis funktioniert und wie es sich modellhaft fassen lässt. Die Basis der Studie bilden die geistes- und sozialwissenschaftliche Erinnerungsforschung sowie die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung: Man will sowohl Erwachsene als auch Jugendliche mittels autobiographischer Interviews und anderer Testverfahren befragen und dabei unter Einsatz von bildgebenden Verfahren aus der Medizin Hirnaktivitäten messen. Ergänzend dazu sind Untersuchungen geplant, in denen zum Beispiel besonders kritischen Lebensereignissen nachgegangen wird. So sollen aus der DDR übergesiedelte Personen ihre Erlebnisse erneut erinnern und nacherzählen. Durchgeführt wird das gesamte Vorhaben von Professor Dr. Harald Welzer von der Universität Hannover, derzeit am Wissenschaftszentrum NRW – Kulturwissenschaftliches Institut in Essen, und von Professor Dr. Hans-Joachim Markowitsch, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft der Universität Bielefeld.

800.000 Euro werden für ein in der deutschen Wissenschaftslandschaft noch als ungewöhnlich zu bezeichnendes Projekt zur Verfügung gestellt. Mit ihrem Vorhaben "Psychology of Religion: Development of Instruments and Empirical Research“ versuchen Dr. Sebastian Murken vom Forschungszentrum für Psychobiologie und Psychosomatik der Universität Trier und Stefan Huber (lic. phil., lic. theol.) von der Universität Fribourg in der Schweiz, die Religionspsychologie im deutschsprachigen Raum als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Sie wollen dabei aus psychologischer Perspektive (aktuelle) religiöse Phänomene erfassen und der weiteren Forschung zugänglich
machen. Neben der Entwicklung spezifischer „Messinstrumente“ geht es ihnen um zweierlei: einerseits um die Untersuchung des Gebets als spezieller Form religiöser Praxis im Kontext der Bewältigung krisenhafter Momente – und zwar bei Müttern nach dem Unfall eines Kindes. Bewirken solche kritischen Momente zum Beispiel eine Intensivierung von Religiosität? Zum anderen untersuchen die Wissenschaftler die Auswirkung von Mitgliedschaften in neuen religiösen Bewegungen – insbesondere im Hinblick auf die „mentale Gesundheit“ des Einzelnen. In welchen Lebenssituationen treten Personen diesen Gemeinschaften bei; was geschieht nach den ersten Kontakten, und wie erfolgt die weitere Einbindung in die Bewegung? Die Mitglieder solcher Bewegungen sollen dazu nach ihrem Eintritt über längere Zeit wissenschaftlich beobachtet und begleitet werden. Dabei geht es um die gesellschaftlich nach wie vor brisante Frage, unter welchen Umständen neue religiöse Bewegungen Anziehungskraft ausüben, welche Charaktermerkmale jemanden für den Eintritt prädestinieren und wie die weitere Entwicklung in Abhängigkeit von der Persönlichkeit des Einzelnen und der Gruppe verläuft.

Die VolkswagenStiftung hat ferner weitere Bewilligungen im Rahmen ihrer Förderinitiative „Konstruktionen des ’Fremden’ und des ’Eigenen’: Prozesse interkultureller Abgrenzung, Vermittlung und Identitätsbildung“ ausgesprochen. „Ethnische Grenzziehung und soziale Kontexte“ lautet das Forschungsthema von Professor Dr. Hartmut Esser vom Lehrstuhl für Soziologie und Wissenschaftslehre der Universität Mannheim. Sein Ziel ist es, Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen in Ost- und in Westdeutschland gegenüber ethnischen Minderheiten zu erfassen. Dahinter steht der untersuchungsleitende Gedanke, dass die Abgrenzungen von Deutschen gegenüber Ausländern sich nicht vorzugsweise durch individuelle Abneigungen erklären lassen, sondern auf bestimmten sozialen Faktoren beruhen. Nachgegangen wird damit dem Phänomen der „Fremdenfeindlichkeit (fast) ohne Fremde“ – dass also in jenen Regionen Deutschlands die sozialen Distanzen gegenüber Fremden besonders stark ausgeprägt sind, in denen eher wenige von ihnen leben. Geplant ist eine repräsentative Befragung von Personen einschließlich deren jeweiliger Bezugsgruppen. Die VolkswagenStiftung fördert das Projekt mit rund 230.000 Euro für zwei Jahre.

Die VolkswagenStiftung richtet zudem eine weitere Nachwuchsforschergruppe ein und stellt dieser für fünf Jahre 1,25 Millionen Euro zur Verfügung. Dr. Roland Beckmann – bis vor kurzem im New Yorker Labor von Nobelpreisträger Professor Dr. Günther Blobel tätig – wird sich mit einem Team junger Wissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität am dortigen Institut für Biochemie der Charité beschäftigen mit "Cryo-electron microscopy of the endoplasmatic reticulum protein targeting and translocation machinery".

Eine ausführlichere Fassung dieser Pressemitteilung mit Nachrichten zu weiteren Projekten und Bewilligungsübersichten finden Sie auf unserer Homepage unter www.volkswagenstiftung.de/presse01/p120301.htm.
Dort informieren wir Sie ergänzend über:

die Erforschung verschiedener Funktionen unseres Gedächtnisses
(Projekt im Schwerpunkt Dynamik und Adaptivität neuronaler Systeme);

die so genannte Gedächtniskonsolidierung und -rekonsolidierung; also darüber, wie Wissen gespeichert, aufgerufen und erneut abgespeichert wird (Projekt im Schwerpunkt Dynamik und Adaptivität neuronaler Systeme);

„Rubisco“, das verbreitetste Protein der Biosphäre (Projekt im Schwerpunkt Konformationelle Kontrolle biomolekularer Funktionen);

afroamerikanische Identitätsbildung in den USA (Projekt im Schwerpunkt Konstruktionen des ’Fremden’ und des ’Eigenen’);

ein Projekt zur islamischen Bildung in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten (Schwerpunkt: Zwischen Europa und Orient – Mittelasien/ Kaukasus im Fokus der Wissenschaft);

ein Vorhaben zur Untersuchung von Akkulturations- und Assimilationsprozessen in deutsch-polnischen Grenzgebieten über einen Zeitraum von 200 Jahren (im Schwerpunkt Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas);

Lehren und Lernen in der Fremdsprache Deutsch an einer Russischen Hochschule und zur Vorbereitung an dortigen Schulen (Projekt im Rahmen des beendeten Förderprogramms Gemeinsame Wege nach Europa);

die Strategien von Unternehmen, sich bedingt durch globale Unterschiede in den Arbeitsmarktbedingungen jenseits ihrer ursprünglichen nationalen Grenzen neu zu organisieren (im Schwerpunkt Globale Strukturen und deren Steuerung);

Auswirkungen des demographischen Wandels – der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt – auf internationale Kapitalströme (ebenfalls im Schwerpunkt Globale Strukturen und deren Steuerung).


Kontakt:
VolkswagenStiftung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Christian Jung, Tel.: 05 11 / 83 81 – 380, E-Mail: jung@volkswagenstiftung.de

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Dipl.Biol. Dipl.Journ. Christian Jung idw

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