Neue Fachzeitschrift "Economics and Human Biology"

Pro-Kopf-Einkommen, Arbeitslosenrate, Bruttosozialprodukt – die Liste volkswirtschaftlicher Größen, die zur Bestimmung des Lebensstandards herangezogen werden, ließe sich fortsetzen. Doch für ein abgerundetes Bild müssen auch biologische Faktoren, also bestimmte Körpermerkmale, berücksichtigt werden. Die neu gegründete Fachzeitschrift „Economics and Human Biology“, herausgegeben vom Elsevier Verlag (Amsterdam), soll diese Lücke an der Schnittstelle mehrerer Fachgebiete schließen.

Professor John Komlos, Wirtschaftshistoriker an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der LMU, hat die Neugründung initiiert und ist Chefredakteur des Journals.

„Die Zeitschrift wird unter anderem Anthropologen, Biologen, Medizinern und Ökonomen ein interdisziplinäres Forum bieten“, so Komlos. „Der Schwerpunkt liegt dabei nicht notwendigerweise auf der Medizin, sondern auf der menschlichen Biologie.“ Weder Zeit noch Raum sind limitierend: Untersucht wird auch in weit entlegenen Regionen der Welt. Besonderes Augenmerk gilt Entwicklungs- und Übergangsökonomien, weil dort versteckte Kosten zu Lasten der öffentlichen Gesundheit leicht übersehen werden. Artikel namhafter Forscher wurden für die erste Ausgabe akzeptiert, unter anderem ein Text von Professor Amartya Sen, der 1998 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt.

Sozio-ökonomische Faktoren beeinflussen den Menschen als biologisches Wesen und bestimmen, wie er sich entwickelt. Durchschnittliche Werte einiger Merkmale des menschlichen Körpers wie Körpergröße, Gewicht und Knochendichte erlauben eine differenzierte Bestimmung der sozio-ökonomischen Umgebung einer Bevölkerungsgruppe und spiegeln die Lebensqualität und den Standard des Gesundheitswesens wider.

Faktoren wie die Chancenungleichheit der Geschlechter oder kurzfristige wirtschaftliche Veränderungen lassen sich damit sehr gut nachweisen. „Der Zustand der Gesellschaft kann aber nur vollständig erfasst werden, wenn man verschiedene Perspektiven – ökonomisch und biologisch – einnimmt“, meint Komlos. „Ein einzelner Indikator wird sehr wahrscheinlich nur eine eingeschränkte Sicht bieten.“

Die Körpergröße ist ein wichtiger biologischer Faktor, weil sie zeigt, wie gut sich ein Mensch während seiner Kindheit und Jugend entwickeln konnte. Körpergrößen nehmen im Schnitt in guten Zeiten zu und stagnieren oder nehmen ab in schlechten. Das hängt ab von der Ernährung, dem Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, der Umweltverschmutzung und den Krankheiten, die ein Organismus in den ersten Lebensjahren durchmacht.

Nobelpreisträger Amartya Sen untersucht gemeinsam mit Siddiq Osmani in der ersten Ausgabe von „Economics and Human Biology“ versteckte Auswirkungen der Geschlechter-Ungleichheit. Diese Art der Diskriminierung findet sich in unterschiedlicher Form fast überall auf der Welt. In manchen Regionen wächst sich diese Diskriminierung zu einer Frage von Leben und Tod aus, was sich in ungewöhnlich hohen Sterblichkeitsraten von Frauen und einer Überzahl von Männern in den betroffenen Populationen zeigt. Dabei wirkt sich die Diskriminierung der Frauen auf die Gesundheit aller, auch der Männer aus, mit hohen wirtschaftliche Kosten. Südasien ist dafür ein Beispiel. Eine Reihe von nationalen Gesundheitssystemen dort ist überfordert, weil sich verschiedene neue Krankheiten verbreiten, während noch die alten Leiden hohen Tribut von der Bevölkerung fordern. Die Ungleichbehandlung der Geschlechter erschwert eine Bekämpfung dieser Krankheiten auf vielfältige Weise, was die wirtschaftlichen Kosten deutlich in die Höhe treibt.

Ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit dem Einfluss der Wirtschaft auf die öffentliche Gesundheit nach dem tiefgreifenden politischen Wechsel Anfang der 1990er Jahre in Südafrika. Mehr als 4000 Kinder wurden in verschiedenen Altersstufen in Bezug auf ihre Körpergröße und Entwicklung untersucht. Es zeigte sich, dass die durchschnittliche Körpergröße weißer Kinder immer noch die ihrer schwarzen Altersgenossen übertrifft. Unterschiede, die bereits bei der Geburt bestehen, werden auch während der Kindheit und frühen Jugend nicht ausgeglichen. Politische und soziale Faktoren, die in den letzten Jahren in Südafrika verbessert wurden, wirken sich nicht oder nicht genügend auf die Versorgung der Kinder aus.

Andrea Wagner vom Department für Volkswirtschaft der LMU und Jörg Baten von der Universität Tübingen untersuchen den Lebensstandard der deutschen Bevölkerung in den ersten Jahren des Nazi-Regimes. Sie vergleichen Trends in der Sterblichkeit und der Nahrungsmittelversorgung aus den ersten Jahren des Dritten Reiches von 1933 bis 1937 mit jenen aus der Weimarer Republik von 1919 bis 1933. Es ist bekannt, dass in den ersten Jahren das Bruttosozialprodukt des Dritten Reiches anstieg, was als eine Verbesserung des Lebensstandards interpretiert wird. Baten und Wagner können zeigen, dass in den Anfangsjahren des Dritten Reiches die Sterblichkeitsrate in allen Altersgruppen erheblich anstieg. Besonders betroffen war die städtische Bevölkerung. Maßgebliche Ursache war der drastische Anstieg der Militärausgaben zu Kosten der öffentlichen Gesundheit, und die Einschränkung von Lebensmittelimporten. Die durchschnittliche Körpergröße von Kindern stagnierte zwischen 1933 und 1938. Im Vergleich dazu: Während der 1920er Jahre stieg die durchschnittliche Körpergröße bei Kindern an.

Den anthropometrischen Status von Kindern in der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan während der 1990er Jahre haben Wissenschaftler der Universität London untersucht. In einer über acht Jahre laufenden Studie untersuchten sie die durchschnittlichen Körpergrößen von Kleinkindern. Dabei zeigten sich bei den Jungen kaum Unterschiede. Die Mädchen dagegen wurden in diesem Zeitraum im Schnitt deutlich kleiner. Dies ist vermutlich auf die ökonomische Instabilität in Kasachstan zurückzuführen. Die Wissenschaftler haben auch die Nahrungsmittelversorgung detailliert untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Kinder in den Haushalten sehr unterschiedlich versorgt werden, was in der Regel zum Nachteil der Mädchen geht.

Weit entfernt und doch vom westlichen Einfluss betroffen sind die Einwohner der Cook Islands im Pazifik. Wissenschaftler der Universität Oxford zeigen, dass sich die Auswirkungen der westlichen Diät am deutlichsten bei den Bewohnern Ozeaniens zeigen: Die Körpergröße der Cook Islanders auf Rarotonga hat in den letzten fünf Jahrzehnten deutlich zugenommen – ebenso aber auch das Gewicht. Traditionelle Rezepte aus Fisch werden zunehmend durch fettreichere Gerichte aus Fleisch ersetzt. Die täglich aufgenommene Kalorienmenge stieg deshalb deutlich an. Die Bewohner gehören weltweit mittlerweile zu den Populationen mit dem größten Anteil übergewichtiger Personen.

Ein Artikel in einer späteren Ausgabe von „Economics and Human Biology“ wird sich mit den Körpermaßen der US-Amerikaner beschäftigen. Ehemals die durchschnittlich größte Nation, haben die Amerikaner diesen Titel abgegeben, sind jetzt aber die Beleibtesten. John Komlos und Marieluise Baur, beide LMU, zogen für ihre Studie die Körpergröße und den Body-Mass-Index, das Verhältnis von Körpergewicht zur Größe, heran. Dabei zeigt sich, dass bis zu 20 Prozent der amerikanischen Bevölkerung stark übergewichtig ist. Die Führung in puncto Körpergröße haben die Amerikaner trotz hervorragender Wirtschaftsdaten schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verloren. Heute werden sie von den Holländern, Dänen, Schweden, Norwegern und sogar den Deutschen „überragt“.

Ansprechpartner:

Professor John Komlos
Department für Volkswirtschaft der LMU
Seminar für Wirtschaftsgeschichte
Tel.: +49 / (0)89 / 2180 – 3169
e-mail: john.komlos@econhist.de

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