Wie Individualismus unsere Gesellschaft stabilisiert

Die öffentliche Meinungsbildung verblüfft Politiker, Medienvertreter und uns alle immer wieder aufs Neue. Einerseits fördert die gegenseitige soziale Beeinflussung die Konvergenz der Meinungen. Andererseits bilden sich oft Anhänger verschiedener Meinungen aus, wenn es um Impfkampagnen, Burka-Verbot oder Atomkraft geht.

Die dahinterstehenden Mechanismen stellen auch die Wissenschaft vor ein Rätsel. Werden nämlich die Zufallsschwankungen im Meinungsbildungsprozess berücksichtigt, bei denen die Meinung in einem Spektrum von pro nach contra kontinuierlich variieren kann, bildet sich entweder ein allgemeiner Konsens, oder aber die Gesellschaft zerfällt vollständig in Individuen – ein asozialer Zustand, den Soziologen als Anomie bezeichnen.

Um auch pluralistische Gesellschaften verstehen zu können, dachten sich Wissenschaftler verschiedene Mechanismen aus. «Die bisherigen Ansätze sind jedoch realitätsfremd», erklärt Dirk Helbing, Professor für Soziologie an der ETH Zürich. Sie nehmen beispielsweise an, dass Menschen mit sehr verschiedenen Meinungen nie miteinander sprechen.

Inspiration aus der Physik

Auf die richtige Fährte für ein realitätsnahes Modell kamen die Autoren Michael Mäs, Andreas Flache und Dirk Helbing durch ein Modell aus der Physik: der Tröpfchenbildung, wenn sich Wasserdampf abkühlt. In Anlehnung an die dabei zwischen den Wassermolekülen wirkenden Kräfte, trafen sie die Annahme, dass die Interaktivitätsstärke von Individuen von deren gegenseitigem Abstand im Meinungsraum abhängt. Darüber hinaus berücksichtigten sie aber auch Zufallsschwankungen im Meinungsbildungsprozess. Dabei nahmen sie an, dass das Bedürfnis nach Individualismus und dadurch die Stärke der Zufallsschwankungen mit einer steigenden Anzahl Gleichgesinnter zunimmt. Das neue Modell ist einerseits in der Lage, die bekannten Variationen in der öffentlichen Meinung – wie man sie etwa von Wahlumfragen kennt – zu beschreiben. Es macht aber auch verständlich, warum Individuen zu Gruppen kondensieren, und grosse Gruppen sich in kleinere aufspalten.

Besseres Verständnis des Pluralismus

Den Wissenschaftlern gelang es in ihrer Studie in einem einzigen Modell, Konsens, Anomie und Pluralität darzustellen – je nachdem, ob die integrativen Kräfte oder die individualistischen Tendenzen überhand nahmen. Aber selbst wenn zu Beginn der Simulation ein perfekter Konsens der Meinungsträger herrscht, können allmählich Gruppen entstehen. Es bildet sich sozusagen ein «Ökosystem von Meinungen», das auch als Pluralismus bezeichnet wird. Das Modell macht aber auch deutlich, dass der Pluralismus von der Anomie und der Monokultur «ständig» bedroht ist.

«Zum Glück gibt es nicht nur eine einzige Konstellation, in der sich integrative und individualistische Kräfte die Waage halten, sondern einen relativ breiten Bereich, in dem sich Individuen zu unterschiedlichen Meinungsclustern zusammen finden», sagt Helbing. Die Zufallskräfte ermöglichen folglich einen vergleichsweise robusten Pluralismus. Zu denken gibt den Wissenschaftlern aber, dass die möglichen gesellschaftlichen Zustände im Modell nicht scharf voneinander getrennt sind. Es gibt fliessende Übergänge, wo Gruppen allmählich verschwinden oder überhand nehmen.

Meinungsvielfalt in Gefahr

Für Helbing wirft das Modell Licht auf die Umstände, die zur Ausbildung von Pluralismus führen, zeigt aber auch, dass dieser nicht zwingend stabil ist. Fraglich ist für die Autoren der Studie, wie sich die derzeitigen Entwicklungen auf die Gesellschaft auswirken werden, etwa die Globalisierung oder die Revolution der Informationssysteme. So bekämen wir immer öfters gesagt, wo es lang gehe. Nicht nur durch Medien und die Werbung, sondern auch das Internet gebe ständig Empfehlungen, was man hören, sehen oder denken soll. Das könnte den Herdentrieb in der Gesellschaft verstärken, befürchtet Helbing. «Die gegenwärtig in ganz Europa aufkeimenden Integrationsdebatten müssen einen in Zeiten der wirtschaftlichen Krise durchaus nachdenklich stimmen.»

Mäs M, Flache A & Helbing D: Individualization as Driving Force of Clustering Phenomena in Humans. PLoS Comput Biol 6 (2010): e1000959. doi:10.1371/journal.pcbi.1000959

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Claudia Naegeli idw

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