Den Rollstuhl mit den Ohren steuern

Verbundpartner Dr. Rüdiger Rupp von der Klinik für Paraplegiologie des Universitätsklinikums Heidelberg trainiert spielerisch die richtige Aktivierung seiner Ohrmuskeln. Die Muskelaktivität wird mit einem drahtlosen Elektromyogrammverstärker hinter dem Ohr aufgezeichnet. Quelle: rupp/heidelberg<br>

Die Muskulatur der Ohrmuschel aktivieren – das schaffen nicht nur Menschen, die von Natur aus mit den Ohren wackeln können. Fast jeder Mensch kann die Ohrmuskulatur willentlich aktivieren, wenn er diese Fähigkeit gezielt trainiert. Das haben Neurologen der Universitätsmedizin Göttingen herausgefunden. Nun wollen sie die Muskeln rund um die Ohren für ganz andere Aufgaben nutzbar machen.

Die Idee der Forscher: Die Ohrmuskeln könnten die nötige Energie liefern, um technische Hilfsmittel wie Rollstühle oder Prothesen zu steuern. Denn bei jeder Muskelaktivierung entstehen auf natürliche Weise elektrische Signale. Ihr konkreter Plan ist der Bau einer Apparatur, mit der sich diese elektrischen Signale ableiten und weiterverarbeiten lassen.

Einen Prototypen dieser innovativen Mensch-Maschine-Schnittstelle wollen Wissenschaftler aus Göttingen, Heidelberg und Karlsruhe jetzt gemeinsam entwickeln. Geleitet wird das Verbundprojekt von Prof. Dr. David Liebetanz aus der Abteilung Klinische Neurophysiologie an der Universitätsmedizin Göttingen. Verbundpartner sind Dr.-Ing. Rüdiger Rupp von der Klinik für Paraplegiologie des Universitätsklinikums Heidelberg und Dr.-Ing. Markus Reischl vom Institut für Angewandte Informatik und Automatisierungstechnik des Karlsruher Instituts für Technologie. Unterstützung erhält der Verbund von dem Unternehmen Otto Bock HealthCare. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beabsichtigt, das Forschungsprojekt für drei Jahre mit rund 810.000 Euro zu fördern.

„TELMYOS“ – so lautet die Abkürzung für die neue Technologie, die die Forscher im Verbund untersuchen wollen. „TELMYOS“ steht für ein „telemetrisches myoelektrisches Ohrmuskelableitsystem“. Ein kleiner Chip hinter dem Ohr soll Muskelsignale aufzeichnen und per Funk an einen Empfänger übertragen, der dann die Geräte steuert. Diese Technologie könnte – wegen des neuartigen Funktionsprinzips – eine Alternative zu bisherigen Strategien sein. Aktuell konzentriert sich die Forschung zur Steuerung von Neuroprothesen auf die Analyse von elektrischen Strömen des Gehirns (Brain-Computer Interface). Allerdings wird in den nächsten Jahren keine Routineanwendung dieser Technologie erwartet.

„Wir wollen in den nächsten drei Jahren ein neues System entwickeln, mit dem Patienten mit einer hohen Querschnittlähmung, die weder Arme noch Beine bewegen können, erstmalig ihre technischen Rehabilitationsmittel mit Hilfe der Ohrmuskeln selbst steuern können“, sagt Prof. David Liebetanz. „Jeder auch noch so kleine Zugewinn an Autonomie ist für diese Patienten, die bisher bei jeglicher Tätigkeit die Hilfe von anderen benötigen, von großer Bedeutung.“

Als erstes wollen die Forscher einen Laborprototyp zur Ableitung der Ohrmuskelaktivität erstellen. Dr. Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg hat die Aufgabe, die Elektronik in Form eines Ohrclips zu entwickeln. Damit soll dann untersucht werden, inwieweit sich die Steuerung mit den Ohrmuskeln erlernen lässt. Parallel dazu untersuchen die Neurophysiologen des Projekts, wie die Verschaltung zwischen dem Großhirn und der Ohrmuskulatur abläuft und über welche Wege die äußere Ohrmuskulatur aktiviert wird. „Die Erprobungsphase mit ausgewählten Testpersonen wird zeigen, ob der Labortyp grundsätzlich für den Einsatz in der Klinik geeignet ist“, sagt Prof. Liebetanz.

Liebetanz und seine Forscherkollegen wollen dabei auch überprüfen, ob die antrainierte und mit hoher Konzentration auszuführende Steuerung des Rollstuhls oder der Prothese über die Ohrmuskulatur langfristig in eine intuitive Routinetätigkeit übergeht. Der Gedanke ist nicht abwegig. Denn das Hirnareal zur Aktivierung der Hand liegt in unmittelbarer Nähe des Gebiets zur Ansteuerung der Ohrmuskulatur. „Unser Wunsch wäre es, dass das Rollstuhlfahren über die Ohrmuskeln keine volle Aufmerksamkeit und höchste Konzentration mehr erfordert“, sagt Liebetanz. „Dann wäre unser System voll alltagstauglich.“

Wichtige Arbeiten liegen bei dem Informatiker Dr. Markus Reischl des Karlsruher Institutes für Technologie: Die Möglichkeiten, die Ohrmuskulatur willentlich anzuspannen, muss mit einer Auswerte-Software analysiert werden, die speziell zu entwickeln ist. Durch eine bewegte Computergrafik kann der Anwender dann seine Ohrmuskelaktivitäten sehen und gezielt trainieren. Das Ziel der Forscher: Die neue Mensch-Maschine-Schnittstelle „Ohrmuskel“ soll beliebige Geräte ansteuern können – einen elektrischen Rollstuhl ebenso wie eine funktionelle Armprothese.

Die Ergebnisse, die mit dem Laborprototypen erzielt werden, sollen am Ende des Verbundprojektes die Grundlage sein für die Entwicklung eines voll implantierbaren Systems. Das ist noch Zukunftsmusik: Ein solches System wählt sich per Funk in unterschiedliche Geräte, sei es ein Rollstuhl, eine Armprothese oder ein Computer eines Patienten, ganz einfach ein.

WEITERE INFORMATIONEN
Universitätsmedizin Göttingen – Georg-August-Universität
Abteilung Klinische Neurophysiologie
Prof. Dr. David Liebetanz
Telefon 0551 / 39-8453
dliebet@gwdg.de

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