Landflucht in Europa ist jung und weiblich

Nach den Auswertungen der IfL-Wissenschaftler Karin Wiest und Tim Leibert ist in der Altersgruppe 20 bis 24 in ganz Europa ein ähnliches räumliches Muster zu erkennen: Während in den Städten die Frauen deutlich in der Mehrzahl sind, weisen ländliche Räume eher Männerüberschüsse auf.

Als Gründe nennen die Forscher Ausbildungs- und berufsbedingte Wanderungen: Junge Frauen nehmen fast überall in Europa häufiger ein Studium auf als gleichaltrige Männer, gleichzeitig haben sie größere Schwierigkeiten, auf ländlichen Arbeitsmärkten Fuß zu fassen. Hinzu kommen die oft stärker eingeschränkten Perspektiven für Lebenspläne jenseits der Hausfrauen- und Mutterrolle.

Ländliche Räume in Ostdeutschland sind im europäischen Vergleich mit am stärksten von der Abwanderung junger Frauen betroffen. In manchen Gegenden kommen bei den 20- bis 24-Jährigen auf hundert Männer nur achtzig Frauen. Die Forscher werten indes die Männerüberschüsse in den neuen Ländern eher als Extremfall und nicht so sehr als Einzel- oder Sonderfall. „In den meisten anderen Staaten sind vergleichbare Werte jedoch häufig auf lokale Besonderheiten wie Militärstandorte oder technische Universitäten zurückzuführen“, erläutert Karin Wiest. Noch niedrigere Frauenanteile als in Ostdeutschland sind in manchen Regionen Griechenlands und der Türkei anzutreffen. Rekordhalter beim Männerüberschuss ist die ostanatolische Provinz Tunceli. Dort kommen nur 23 Frauen auf 100 Männer. Regional ausgewogenere Geschlechterverteilungen haben die Forscher dagegen in Ländern wie Spanien und Italien ausgemacht, wo ein Großteil der jungen Erwachsenen noch bei den Eltern wohnt.

In der Altersgruppe 25 bis 29 verschieben sich laut den Experten insbesondere in suburbanen Regionen und einigen gut erreichbaren, landschaftlich attraktiven ländlichen Räumen die Geschlechterverhältnisse. Die meisten Kernstädte weisen zwar weiterhin erhebliche Frauenüberschüsse auf. In der Altersgruppe 30 bis 34 wird der ländliche Raum dann aber in weiten Teilen Europas „weiblicher“. Mit dem Leben auf dem Land wird die Vorstellung von Ruhe, Sicherheit, Nachbarschaftlichkeit und traditionellen Familienwerten verbunden: „Aspekte, die die 20- bis 24-Jährigen eher als Standortnachteile wahrnehmen, können Eltern oder Paare mit Kinderwunsch als Pluspunkte ansehen“, so Tim Leibert. Außerdem spielten für Frauen in dieser Altersgruppe soziale Beziehungen, familiäre Netzwerke und die Arbeitsplatzsituation des Partners wieder eine wichtigere Rolle bei der Wahl des Lebensortes. Damit, so die Wissenschaftler, lasse sich zum Teil die Rückkehr in ländliche Herkunftsräume erklären.

Wie Karin Wiest und Tim Leibert in ihren Analysen feststellen konnten, wird der Wohnstandort in diesem Lebensabschnitt jedoch häufig nicht in die Herkunftsregion, sondern in gut erreichbare suburbane Räume verlegt. Als Motiv sehen sie die Möglichkeit, die Vorteile des Landlebens zu genießen, ohne den gut bezahlten Job in der Stadt aufgeben zu müssen. Insgesamt sei für die unausgewogenen Geschlechterproportionen das Zusammenspiel von weiblichen und männlichen Arbeitsmarktstrukturen maßgeblich. Daraus erkläre sich auch, dass viele periphere und wirtschaftsschwache Räume in dieser Altersgruppe keine Frauenüberschüsse aufweisen.

Im osteuropäischen Vergleich fallen Russland, die Ukraine und Weißrussland durch zum Teil erhebliche Frauenüberschüsse im ländlichen Raum aus dem Rahmen. Diese sind jeodoch laut den Ergebnissen der Studie nicht auf Geschlechterunterschiede im Wanderungsverhalten zurückzuführen. Die Ursache liege vielmehr in der hohen Sterblichkeit junger Männer infolge der anhaltenden Gesundheitskrise und der starken Zunahme der gewaltsamen Tode bei Männern zwischen 15 und 29.

Eine Sonderstellung Ostdeutschlands sehen die Experten bei der Altersgruppe 30 bis 34: Im Unterschied zu anderen Ländern und Regionen bleibt hier die Zu- und Rückwanderung von Frauen in der Familiengründungsphase in ländliche Räume weitgehend aus. Als Ursachen führen die Forscher neben der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage auch die DDR-Sozialisation von Eltern und Lehrern, das Erleben des ökonomischen Zusammenbruchs nach 1989 und der wirtschaftlichen und sozialen Krise in den 1990er-Jahren an. Hinzu komme die sinkende Lebensqualität im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel, etwa durch Schulschließungen oder Stilllegung von Bahnlinien. Auch die traditionell hohe Erwerbsorientierung ostdeutscher Frauen in Verbindung mit einer ausgeprägten Bereitschaft, für eine Arbeitsstelle nach Westdeutschland zu ziehen, spiele eine wichtige Rolle.

Die unter Federführung des Leibniz-Instituts für Länderkunde durchgeführte Studie „Selective Migration and Unbalanced Sex Ratio in Rural Regions – SEMIGRA“ wird von der Europäischen Union im Rahmen des ESPON-Programms 2013 gefördert. Kooperationspartner sind in Schweden das Königliche Technologie-Institut in Stockholm, in Ungarn die Wirtschaftsfakultät der Universität Miskolc und das Zentrum für Regionalstudien der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Pécs sowie in Finnland das Lönnrot-Institut an der Universität Oulu. Die Untersuchungsergebnisse werden in enger Abstimmung mit den planungspolitischen Akteuren in den Projektregionen entwickelt. Sie sollen dazu beitragen, Konzepte der Raum- und Regionalentwicklung unter alters- und geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten zu verbessern.

Erste Ergebnisse der Studie, einschließlich thematischer Karten und Grafiken, sind auf der vom Leibniz-Institut für Länderkunde betriebenen Internetseite „Nationalatlas aktuell“ unter http://aktuell.nationalatlas.de nachzulesen. Erkenntisse für Sachsen-Anhalt als eine der Projektregionen werden im Rahmen einer Konferenz am 25. Januar 2012 in Köthen vorgestellt und diskutiert.

Weiterführende Informationen zum Projekt bietet die Website http://www.semigra.eu. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Tim Leibert, Tel. +49 341 600 55-188, T_Leibert@ifl-leipzig.de

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Dr. Peter Wittmann idw

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