Keine Zeit für Gründe
In den letzten Monaten verging kaum eine Woche, ohne dass sich Politiker – sei es in den Landesparlamenten oder auf europäischer Ebene – trafen, um über immer neue und höhere Geldsummen zu befinden, die anderen europäischen Staaten aus der Finanzkrise helfen sollen.
Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den meisten Abgeordneten gar nicht mehr klar ist, worüber sie gerade befinden – verständlicherweise. Denn in der Geschwindigkeit, in der sich die Ausgangssituationen für Entscheidungen ändern, kann sich ein einzelner Mensch nicht das Rüstzeug zulegen, das er braucht, um zwischen richtig und falsch abzuwägen.
Doch diese Beschleunigung wirkt sich nicht nur auf politische Entscheidungen aus. Jeder Einzelne sieht sich tagtäglich mit ähnlichen Situationen konfrontiert. Soziologen der Friedrich-Schiller-Universität Jena wollen dieses Phänomen und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft in den kommenden drei Jahren untersuchen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das von Prof. Dr. Hartmut Rosa geleitete Projekt „Handlungsautonomie in der Spätmoderne – subjektiver Anspruch, institutionelle Basis und strukturelle Dynamik einer normativen Leitidee“ mit 355.000 Euro.
„Ein elementarer Baustein der modernen Gesellschaft westlicher Prägung ist, dass Subjekte mehr Freiheiten bekommen und damit auch mehr Pflichten, diesen erweiterten Handlungsspielraum zu nutzen. Entscheidungen zu treffen, steht da ganz oben in der Prioritätenliste“, erklärt Jörg Oberthür von der Universität Jena den Begriff der Autonomie. „Doch dieser Eigenverantwortung kann gar nicht mehr nachgegangen werden, weil die Maßstäbe fehlen, um zu entscheiden“, ergänzt der Soziologe, der im neuen Projekt mitarbeitet. Denn um Gründe zu entwickeln, die für Entscheidungen notwendig sind, müsse man u. a. auf Erfahrungen zurückgreifen können. Doch diese fehlen. Ebenso haben sich die Handlungsoptionen immens vermehrt.
Die Jenaer Forscher wollen ihrer These, nach der es vor allem Beschleunigungseffekte sind, die den Menschen in diesem Punkt überfordern, in verschiedenen Lebensbereichen wie Politik, Wirtschaft, Konsum oder Wissenschaft nachgehen. „Uns geht es aber nicht nur darum, wie dieses Phänomen Subjekte beeinflusst“, sagt André Stiegler, Doktorand im neuen Projekt. „Wir möchten auch die Auswirkungen auf gesellschaftliche Institutionen aufzeigen, die nach unseren Vermutungen in einer Krise stecken.“ So könne etwa die Demokratie darunter leiden, dass die Volksvertreter nicht mehr im Stande sind, gut begründete Entscheidungen zu treffen. Das sorge einerseits für Schaden in der Politik und andererseits für Misstrauen oder Resignation in der Bevölkerung. Ähnliche Effekte lassen sich in der Arbeitswelt beobachten. Während die Auswirkungen der Beschleunigung auf den Arbeitnehmer bereits mehrfach untersucht wurden, fragen die Soziologen der Universität Jena danach, wie beispielsweise die Unternehmen dadurch beeinflusst werden. „Die sogenannte Flexibilisierung von Arbeitsmärkten kann beispielsweise dazu führen, dass sich Einzelne nicht mehr mit einem Unternehmen identifizieren können“, sagt Oberthür. „Das fällt dann letztlich auch auf Firmen selbst zurück.“
Für ihre Forschungen werden die Wissenschaftler 40 qualitative Interviews mit Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen führen. „Wir werden uns sowohl mit Managern als auch mit Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen unterhalten“, sagt Oberthür. „Dabei können wir sicher auch differenzierte Antworten auf die Frage erhalten, wo und für wen sich Handlungsspielräume vergrößert oder verkleinert haben könnten.“
André Stiegler untersucht außerdem, wie sich diese Veränderungen der Handlungsspielräume in der Medienberichterstattung niederschlagen. Dabei analysiert er Artikel aus zwei großen deutschen Tageszeitungen, die sich mit dem Thema beschäftigen.
Kontakt:
Prof. Dr. Hartmut Rosa / Dr. Jörg Oberthür
Institut für Soziologie der Universität Jena
Carl-Zeiß-Straße 2, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945510
E-Mail: hartmut.rosa[at]uni-jena.de / joerg.oberthuer[at]uni-jena.de
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