Evolutionsforscher müssen umdenken

Die DNA-Analyse hat unser Bild vom Ablauf der Evolution entscheidend verändert. Botaniker der Universität Bonn haben nun zusammen mit US-Kollegen und Wissenschaftlern des Forschungsinstituts Senckenberg festgestellt, dass sich eine bestimmte Gruppe von Genomabschnitten hervorragend zur Stammbaumanalyse eignet. Bislang hatte man diese so genannten „nicht codierenden Bereiche“ aufgrund ihrer großen Variabilität nur zum Vergleich nahe verwandter Arten herangezogen. Sie scheinen sich aber auch zur Aufklärung weit entfernter Verwandtschaftsbeziehungen zu eignen – sogar weit besser als die bislang herangezogenen Sequenzen. Die Wissenschaftler haben ihre Ergebnisse im Journal of Evolutionary Biology (J. Evol. Biol. 16, 558-576, 2003) veröffentlicht.

Man stelle sich vor, die Biologen würden plötzlich verkünden, nicht die Schimpansen seien die nächsten Verwandten des Menschen, sondern Hund oder Esel. Alles schon passiert: Erst vor wenigen Jahren mussten nämlich die Botaniker ihre Vorstellung vom Ablauf der Evolution entscheidend revidieren. „Wir wissen mittlerweile“, sagt der Bonner Wissenschaftler Dr. Thomas Borsch, „dass die bekannte Lotus-Blume nicht wie zuvor angenommen mit den Seerosen, sondern eher mit den Platanen verwandt ist, die man vom Straßenrand kennt.“

Ergebnisse aus der Genetik haben unsere Vorstellungen über die Verwandtschaftsverhältnisse der Pflanzen umgekrempelt: Während Wissenschaftler die gesamte Flora früher anhand von einzelnen ausgewählten Merkmalen klassifizierten – also beispielsweise alle Pflanzen mit fünf Staubblättern und radiärsymmetrischer Blüte in eine Gruppe steckten -, liefert heute die Analyse der Erbsubstanz DNA verlässlichere Ergebnisse. Denn die verändert sich mit der Zeit: Von Generation zu Generation wird der DNA-Strang fein säuberlich kopiert und an die Nachkommen weitergegeben. Immer wieder kommt es dabei zu Fehlern: Die Buchstaben im Genalphabet werden falsch abgeschrieben, ganze DNA-Sequenzen verdoppeln sich oder gehen verloren. Je weniger sich daher die DNA zweier Arten ähnelt, desto mehr Zeit ist vergangen, seitdem sie sich aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben.

Manche Gene enthalten den Bauplan für lebenswichtige Proteine. Schon kleine Veränderungen können diese Zelleiweiße unbrauchbar machen; die Träger entsprechender Mutationen sterben. Derartige Gene verändern sich daher nur sehr langsam: sie werden durch den evolutiven Druck „konserviert“. Konservierte Gene werden besonders gerne herangezogen, um weit entfernte Äste des Stammbaums miteinander zu vergleichen, die schon seit langer Zeit getrennt sind.

Doch in der DNA gibt es auch viele Bereiche, die funktionell weniger bedeutsam sind. Mutationen in diesen Abschnitten bleiben für den Organismus weitgehend ohne Konsequenzen; daher verändern sich diese Regionen auch sehr schnell. Traditionell zieht man sie deshalb für den Vergleich nahe verwandter Arten heran. Selbst die eigentlichen Bauanleitungen der Proteine werden immer wieder von derartigen Nonsens-Sequenzen unterbrochen. Bevor sich die Zellmaschinerie ans Werk macht und ein Protein zusammenbaut, kopiert sie daher die genetische Bauanleitung und schneidet aus dieser Kopie, der so genannten mRNA, die Nonsens-Sequenzen (die „Introns“) heraus. Das funktioniert ähnlich wie beim Filmschnitt, bei dem der Regisseur die unwichtigen Szenen entfernt und die wichtigen in die passende Reihenfolge bringt.

Introns sind sehr variabel. Im Laufe der Evolution verlieren sie häufig DNA oder nehmen neues Erbmaterial auf, so dass sich ihre Länge drastisch ändern kann. Die Wissenschaft ging daher bislang davon aus, dass Introns aus Organismen, die sich bereits vor langer Zeit getrennt haben, nicht mehr im Detail zu vergleichen sind. Eine Fehleinschätzung, wie die neuen Daten zeigen: „Auch ein Intron kann nicht einfach wahllos mutieren; auch dort gibt es Bereiche, die zum Beispiel eine bestimmte Länge haben müssen, damit der Genschnitt funktioniert“, erklärt Dr. Borsch. Grund: Damit die Introns aus dem mRNA-Faden entfernt werden können, müssen sie eine Schlaufe bilden. Das ganze funktioniert ähnlich wie bei einer Schnur, aus deren Mitte man etwas herausschneiden möchte: Man legt sie zur Schlaufe, schneidet sie ab und verknotet die Enden miteinander. Das können die Introns aber nur, wenn ihre Gensequenz es zulässt – wenn sie also nicht steif sind, wo sie eigentlich biegsam sein sollten, oder die falsche Länge haben, um eine ordentliche Schaufe bilden zu können.

Bestimmte Bereiche der Introns sind daher sehr wohl vergleichbar – selbst bei Arten, die sich in der Evolution schon vor langer Zeit getrennt haben. „Auch nicht-codierende Genomabschnitte können sich deshalb für die Stammbaumanalyse hervorragend eignen“, freut sich Dr. Borsch. Und das sogar weit besser als die konservierten Genregionen, die Evolutionsforscher normalerweise zur Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse heranziehen. „Schon mit einem Fünftel der Sequenzmenge erhalten wir genauso sichere Aussagen, wie sie bislang durch den Vergleich konservierter Gene gewonnen wurden.“ Unter dem evolutiven Druck leidet nämlich stets auch die Qualität der Information.

Für die Evolutionsbiologen bedeuten die Ergebnisse nicht nur weniger Aufwand, sondern auch ein Umdenken: „Bislang galten nicht codierende Sequenzen für die Analyse entfernter Verwandtschaftsbeziehungen als gänzlich ungeeignet. Nach unseren bisherigen Untersuchungen scheint das aber mit jedem Intron zu gehen.“

Ansprechpartner:
Dr. Thomas Borsch
Nees-Institut für Biodiversität der Pflanzen an der Universität Bonn
Telefon: 0228/73-2681
E-Mail: borsch@uni-bonn.de

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Frank Luerweg idw

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