Primärversorgung: Erstanlaufstelle im Gesundheitssystem stärken

„Primary care in the driver's seat“ – unter diesem Motto diskutierten Experten/-innen in Wien internationale Trends in der Organisation der Primärversorgung. Veranstaltet wurde das Symposium vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (HVB) gemeinsam mit dem European Health Forum Gastein (EHFG) und dem Universitätslehrgang Public Health der Medizinischen Universität Graz.

„Wir haben mit der Gesundheitsreform das Konzept des 'best point of service' etabliert. Jede Leistung im Gesundheitssystem soll also dort erbracht werden, wo sie optimal angesiedelt ist – unter Ressourcen- und Qualitätsaspekten“, so der Generaldirektor des HVB, Dr. Josef Probst. „Die Stärkung der Primärversorgung ist ein zentrales Element der Gesundheitsreform. Wir müssen jetzt diskutieren, was die Aufgabe der Primärversorgung im Detail ist, und welche Ressourcen dafür nötig sind. Dafür ist es hilfreich, Modelle zu analysieren, die sich in anderen Länder bewährt haben.“

EHFG-Präsident Brand: Ärzte/-innen der Primärversorgung gerade in Krisenzeiten wichtig

Das European Health Forum Gastein unterstützt diese Diskussion mit europäischem Know-how und seiner internationalen Vernetzung. „Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass gerade in finanziell angespannten Zeiten der Wirtschaftskrise ein stabiles und effizientes System von Ärzten/-innen der Primärversorgung wichtig ist. Nur so haben die Bürger/-innen und Patienten/-innen auch Ansprechpartner/-innen, die sie sicher durch eine sich rasch verändernde Versorgungslandschaft leiten können“, so EHFG-Präsident Prof. Helmut Brand (Vorstand Department für Internationale Gesundheit, Universität Maastricht). „Wir müssen heute sehen, dass viele Funktionen der öffentlichen Gesundheit (Public Health) Teil der Primärversorgung sind und auch eine sozialkompensatorische Funktion haben.“

Rektor Smolle: Voraussetzungen für stärkere Rolle von Allgemeinmediziner/-innen schaffen

„Allgemeinmediziner/-innen müssen in der Umsetzung der Gesundheitsreform eine wichtige Rolle spielen. Sie haben den entscheidenden Vorteil, ihre Patienten/-innen oft über viele Jahre zu kennen und zu betreuen, und können daher auch viele Gesundheitsprobleme lösen, ohne dass weitere Überweisungen nötig wären“, so Univ.-Prof. Dr. Josef Smolle, Rektor der Medizinischen Universität Graz. „Damit sie diese Aufgabe optimal wahrnehmen und insbesondere die wachsende Zahl chronisch Kranker begleiten und betreuen können, müssen allerdings zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Sie müssen für diese Tätigkeit ausreichend remuneriert werden. Und wir müssen noch mehr Wert auf eine gute und fundierte Ausbildung der Allgemeinmediziner/-innen legen.“

Primärversorger/-innen wichtig für Umsetzung von Gesundheitsreformen

„In sehr vielen OECD-Ländern, nicht nur in den sogenannten Krisenstaaten der EU, geht der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt tendenziell zurück. Mit dem allgegenwärtigen Kostendruck und den wachsenden Versorgungserfordernissen bleibt uns keine andere Option, als die Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitssysteme zu verbessern“, betonte in Wien Dr. Josep Figueras, Direktor des European Observatory on Health Systems and Policy. „Für Reformschritte wie sie in ganz Europa diskutiert werden, zum Beispiel mehr Kosteneffektivität bei Gesundheitsleistungen, eine Entlastung des stationären Bereichs oder eine Stärkung der Prävention, spielen die Anbieter/-innen der Primärversorgung eine zentrale Rolle.“

Österreich im internationalen Vergleich: Wenig Fokus auf Primärversorgung

„Die Herausforderungen, vor denen alle Gesundheitssysteme stehen, erfordern Innovation auf vielen Ebenen, zum Beispiel eine verstärkte Orientierung auf die Patienten/-innen als Ganzes, nicht nur ihre Erkrankungen, neue Wege in der Aus- und Fortbildung für Gesundheitsdienstleister/-innen oder eine neue Verteilung der Aufgaben zwischen den Gesundheitsberufen“, sagte Dr. Winke Boerma, Netherlands Institute of Health Service Research. „Die Primärversorger/-innen, also in der Regel Allgemeinmediziner/-innen, haben hier viel mehr zu bieten als nur erste Anlaufstelle und Lotsen im Gesundheitssystem zu sein. Sie können viele Gesundheitsprobleme kosteneffektiv behandeln, ohne dass weitere Maßnahmen auf höheren Versorgungsstufen nötig wären.“
In Gesundheitssystemen, in denen Hausärzte/-innen eine starke Position hätten, spielten diese auch eine „gate-keeper“-Funktion – sie entscheiden also, ob Patienten/-innen Fachärzte oder Spitäler aufsuchen können. Solche Systeme, zitierte Dr. Boerma aktuelle Studien, seien versorgungseffektiver, es könnten zum Beispiel unnötige Spitalsaufnahmen besser verhindert werden. Allerdings sei in Ländern mit diesem Modell eine niedrigere Patienten/-innen-Zufriedenheit festzustellen, auch der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt sei in diesen Systemen nicht niedriger als in solchen mit einer weniger starken Rolle von Allgemeinmediziner/-innen.

Österreich habe, so der Experte, viel mehr Krankenhausbetten als im europäischen Durchschnitt, zugleich aber deutlich weniger Allgemeinmediziner/-innen als Länder, die eine unterdurchschnittliche Spitalsdichte aufweisen wie die Niederlande. Auch hinsichtlich einiger anderer Aspekte weise Österreich Besonderheiten im Vergleich zu Ländern mit starker Primärversorgung auf, zitierte Dr. Boerma einen aktuelle Europa-weite Untersuchung (QUALICOPC-Survey): 85 Prozent der Allgemeinmediziner/-innen arbeiten hierzulande in einer Einzelordination, in den Niederlanden nur 30 Prozent, alle anderen in Gruppenpraxen. Österreichische Allgemeinmediziner/-innen sehen durchschnittlich 50 Patienten/-innen pro Arbeitstag, in den Niederlanden sind es nur 30. Dies, obwohl österreichische Hausarzt-Ordinationen im Schnitt 7,5 Stunden pro Arbeitstag geöffnet sind — in den Niederlanden sind es 10 Stunden. „Österreich hat derzeit ein stark auf die Sekundärversorgung orientiertes Gesundheitssystem“, fasste Dr. Boerma die Vergleiche zusammen. „Die Primärversorgung wird vielfach von Allgemeinmediziner/-innen als Einzelkämpfer/-innen wahrgenommen, es gibt wenig koordinierte und organisierte Strukturen.“

Bessere Gesundheitsergebnisse mit gut organisierter Primärversorgung

„Die Erwartungen an und Aufgaben für die Primärversorgung haben sich massiv verändert und ausgeweitet, die Hausärzt/-innen rücken immer mehr ins Zentrum der Gesundheitssysteme“, betonte Prof. Richard Saltmann, Rollins School of Public Health, Atlanta, Georgia (USA). „Es sind zwei Trends zu beobachten, wie man mit diesen immer komplexeren Anforderungen umgeht. Entweder man weitet die Rolle der Allgemeinmediziner/-innen horizontal aus, macht sie also im wesentlichen zu Koordinatoren/-innen, die ihre Patienten/-innen durch alle anderen Gesundheitsleistungen lotsen. Oder es kommt zu einer vertikalen Ausweitung ihrer Rolle, und sie sind durch vermehrte Spezialisierung in der Lage, wichtige chronische Krankheiten zu behandeln, ohne an Spezialisten/-innen weiterzuverweisen.“

In Ländern, in denen die Rolle der Primärversorger/-innen auf unterschiedliche Weise gezielt gestärkt worden sei wie Großbritannien oder Dänemark, seinen auch durchaus bessere Ergebnisse bei bestimmten Indikatoren zu beobachten, berichtete Prof. Saltmann. So sei etwa in UK der Anteil von Patienten/-innen mit koronarer Herzerkrankung, deren Blutdruck oder Blutfettwerte gut eingestellt waren, nach Einführung des „Quality Otcomes Framework“, an dem öffentlich finanzierte Allgemeinmediziner/-innen verpflichtend teilnehmen müssen, deutlich gestiegen. „Es ist eine komplexe Aufgabe für Entscheidungsträger/-innen im Gesundheitssystem, die sehr vielfältige und oft auch widersprüchliche Rolle von Allgemeinmediziner/-innen neu zu ordnen und definieren und die entsprechenden Rahmenbedingungen, Regulatorien, aber auch Incentives festzulegen“, so Prof. Saltmann.

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