Wie die Umwelt unsere Wahrnehmung formt: Kleinhirn zuständig für Wahrnehmungslernen

Wahrnehmung und Handlung erfordert nicht nur das reibungslose Zusammenspiel aller Sinne. Der Mensch verlässt sich auch auf Erwartungen in Form sensorischer Vorhersagen. Diese basieren auf vorherigen Erfahrungen und dem Wissen über den wahrscheinlichen Ausgang eines bestimmten Ereignisses.

Um in einer sich rasch verändernden Umgebung immer exakt zu sein, müssen sensorische Vorhersagen immer wieder an die aktuelle Situation angepasst werden. Das Kleinhirn ist für solch eine Rekalibrierung notwendig – unabhängig davon, ob eine Vorhersage für eine Wahrnehmung oder für eine Handlung genutzt wird. Das zeigt die im internationalen Fachjournal „Current Biology“ veröffentlichte Arbeit. Die Teilnehmer der Studie bestanden aus gesunden Probanden und Patienten mit Kleinhirnerkrankungen.

„Adaptation und perzeptuelles Lernen sind essenziell, um die Konsequenzen eines möglichen Fehlverhaltens zu verringern. Durch Lernen erwerben wir Vorwissen und entwickeln Vorhersagen, die es uns erlauben adäquat und rechtzeitig auf unsere Umwelt zu reagieren“, sagt Dr. Axel Lindner vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Dafür müssen Kleinhirn und Großhirn in wechselseitigem Austausch stehen.

Kleinhirn ganz groß
Nahezu alle sensorischen Informationen laufen nicht nur ins Großhirn, sondern stehen auch dem Kleinhirn zur Verfügung. „Es scheint dabei, als ob das Kleinhirn die Verarbeitungsprozesse im Großhirn simuliert um diese vorherzusagen und gegebenenfalls zu korrigieren. Beide Strukturen bilden somit ein mächtiges Schleifensystem, das bei sensorischen Vorhersagen und deren Rekalibrierung ständig aktiv ist“, sagt Manuel Jan Roth vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Dieses Arbeitsprinzip kennen Neurowissenschaftler bereits, wenn es um motorisches Lernen im Kleinhirn, auch Cerebellum genannt, geht. Die gleiche Arbeitsweise macht sich dieses Hirnareal beim Wahrnehmungslernen zu nutze, so die in der Publikation dargestellte Hypothese. Im Vergleich zu anderen Gehirnteilen zeichnet sich das Kleinhirn durch seinen regelmäßigen Aufbau aus, ähnlich einem immer wiederkehrenden Schaltkreis. „Diese kristalline Struktur legt nahe, dass das Kleinhirn ein einheitliches funktionales Rechen-Prinzip anbietet, das den unterschiedlichen Großhirnarealen zur Verfügung gestellt wird, ein Prinzip das die Optimierung sensorischer Vorhersagen auch für das Wahrnehmungslernen ermöglicht“, erklärt Lindner, der auch am Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience (BCCN) und dem Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) in Tübingen forscht, die Arbeitsweise des Kleinhirns.

Sensorische Vorhersagen in der Praxis
Am Beispiel einer vermeintlich einfachen Handlung lässt sich die Notwendigkeit exakter sensorischer Vorhersagen gut verdeutlichen: Wollen wir eine Ketchup-Flasche mit dem Schlag einer Hand auf den Flaschenboden leeren, muss die andere Hand die Flasche festhalten. Damit dies gelingt, müssen wir in der Lage sein, Kraft und exakten Zeitpunkt, mit der die Hand auftrifft, vorherzusagen. Warten wir das auftreffen der Hand auf den Flaschenboden ab, reagieren wir zu spät. Denn durch die zeitlichen Verzögerungen, die durch die Nervenbahnen zum Gehirn entstehen, startet das notwendige Bewegungsprogramm nicht rechtzeitig. Um diese zeitliche Lücke zu überbrücken, erzeugt das Gehirn eine passende motorische Vorhersage. Das gleiche Prinzip greift bei der Wahrnehmung: Wollen wir eine Straße vor einem Auto sicher überqueren, müssen wir in der Lage sein korrekt vorherzusehen, wann das Fahrzeug unseren Weg kreuzt. „Damit solche sensorische Vorhersagen immer exakt sind, werden sie durch das Kleinhirn ständig rekalibriert, also an veränderte Umweltbedingungen, angepasst“, erklärt Roth seine Resultate (wie auch die Grafik zeigt). Die Ergebnisse der Studie sind auch von großer Relevanz für das Verständnis der Folgen von Kleinhirnerkrankungen: Denn Schwächen bei Kontrolle und Wahrnehmung von Bewegungen könnten auch auf einer Störungen der Rekalibrierung von sensorischen Vorhersagen beruhen.

Originaltitel der Publikation
Roth et al., The Cerebellum Optimizes Perceptual Predictions about External Sensory Events, Current Biology Volume 23, Issue 10, 930-935; http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2013.04.027
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen beschäftigt sich mit einem der faszinierendsten Forschungsfelder der Gegenwart: der Entschlüsselung des menschlichen Gehirns. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie bestimmte Erkrankungen die Arbeitsweise dieses Organs beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund werden am HIH die informationstheoretischen und neuronalen Grundlagen wichtiger Hirnfunktionen wie Wahrnehmung, Gedächtnisleistung oder Lernverhalten untersucht. Unter anderem werden auch hirnorientierte Anwendungen für die Technik erforscht.
Website: www.hih-tuebingen.de

Das 1805 gegründete Universitätsklinikum Tübingen (UKT) gehört zu den führenden Zentren der deutschen Hochschulmedizin und trägt als eines der 33 Universitätsklinika in Deutschland zum erfolgreichen Verbund von Hochleistungsmedizin, Forschung und Lehre bei. 2001 gründete es zusammen mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Eberhard Karls Universität das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH), mit dem Ziel, die Ergebnisse der exzellenten neurowissenschaftlichen Forschung rasch in die klinische Praxis zur Behandlung neurologischer und neurodegenerativer Erkrankungen zu überführen. Website: www.medizin.uni-tuebingen.de/

Silke Jakobi

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HIH Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Zentrum für Neurologie, Universitätsklinikum Tübingen
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