Wem nützen vorsorglich implantierte Defibrillatoren?

Start für europaweite und bisher einzige komplett öffentlich geförderte ICD-Patientenstudie EU-CERT-ICD: UMG-Herzzentrum koordiniert. Über 70 Ärzte und Forscher aus ganz Europa treffen sich vom 16. bis 18.10.2013 in Göttingen.

Bisher gelten implantierbare Kardioverter-Defibrillatoren (ICD) für Menschen mit Herzrhythmusstörungen als Lebensversicherung vor plötzlichem Herztod. Älteren Studien zufolge sind rund ein Drittel der Patienten mit einem besonderen Risiko für Herzrhythmusstörungen im Vorteil, wenn ihr Herz durch einen solchen „Schock-Schrittmacher“ unterstützt wird. Die vorbeugende Implantation ist medizinische Routine. Doch neuere Erkenntnisse hinterfragen die Ergebnisse aus früheren Studien.

Welchen Patienten mit Herzrhythmusstörungen genau nützt die vorsorgliche Behandlung mit einem implantierbaren Kardioverter-Defibrillator (ICD) und schützt sie explizit vor dem plötzlichen Herztod? Diese Frage soll jetzt eine große europaweite Studie klären und aktuelle Erkenntnisse liefern. Ein Ziel der Studie ist es, die Leitlinien für die Behandlung mit ICDs zu überprüfen und zur Diskussion zu stellen. Koordiniert wird die EU-CERT-ICD-Studie (Comparative Effectiveness Research to Assess the Use of Primary ProphylacTic Implantable Cardioverter Defibrillators in Europe) vom Herzzentrum der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Die Europäische Union (EU) fördert das Projekt für vier Jahre mit insgesamt 6 Millionen Euro.

Die Studie ist die bisher einzige ICD-Patientenstudie, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. 19 Institutionen aus 14 europäischen Ländern sind an der Studie beteiligt. Mit dabei sind vier Partnerinstitutionen des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislaufforschung (DZHK), die Charité in Berlin sowie die LMU und TU in München. Koordinator des Projekts ist Prof. Dr. Markus Zabel, Leiter des Schwerpunkts Klinische Elektrophysiologie in der Klinik für Kardiologie und Pneumologie, Herzzentrum der Universitätsmedizin Göttingen. Das Projektsekretariat wird geleitet von Dr. Joachim Seegers, Facharzt für Kardiologie im Herzzentrum Göttingen.

„Diese Studie zählt zu den derzeit wichtigsten europäischen Herz-Kreislauf-Studien und es freut mich sehr, dass am Herzzentrum Göttingen erneut die Koordination einer großen europäischen Gesundheitsstudie angesiedelt ist“, so Prof. Dr. Gerd Hasenfuß, Direktor der Klinik für Kardiologie und Pneumologie, Vorsitzender des Herzzentrums der Universitätsmedizin Göttingen und Vorstandsmitglied im Deutschen Zentrum für Herz-, Kreislaufforschung.

Schätzungsweise 500.000 Menschen sterben in der Europäischen Union jedes Jahr am plötzlichen Herztod. Hauptursache sind bösartige, lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen aus den Herzkammern. Frühere Studien konnten belegen, dass Risikopatienten mit implantierbaren Kardioverter-Defibrillator einen Überlebensvorteil von 31 Prozent gegenüber Risikopatienten ohne ICD haben. Die vorbeugende ICD-Implantation bei Risikopatienten wird seitdem von internationalen Leitlinien der Fachgesellschaften vorgesehen und ist in der medizinischen Routine verankert.

„Die Gründe für eine Neueinschätzung der internationalen Richtlinien und der medizinischen Praxis sind vielfältig. Gefährliche Herzrhythmusstörungen sind heutzutage durch verbesserte medikamentöse und andere kardiologische Behandlungsprinzipien direkt behandelbar. Potentielle Implantationskandidaten leiden deshalb heute seltener unter lebensbedrohlichem Kammerflimmern als vor zehn Jahren“, sagt Prof. Dr. Markus Zabel, Koordinator der europaweiten Studie.

Neuere Studien legen zudem nahe, dass bestimmte Patienten heutzutage keine Überlebensvorteile haben, weil sie vorbeugend mit einem ICD versorgt wurden. Zwei Drittel der prophylaktisch implantierten ICDs kommen nie zum Einsatz. Und auch nicht jede Situation, die zu einem „Schock“ des ICDs führt, hätte zu einem plötzlichen Herztod geführt, wenn der Patient keinen ICD gehabt hätte. „Die Beispiele zeigen, dass die verfügbaren Daten über die Effektivität von prophylaktisch implantierten ICDs dringend aktualisiert werden müssen. Auch die Aktualisierung der Auswahlkriterien für Patienten, die von einer prophylaktischen ICD-Therapie profitieren sollen, ist unbedingt erforderlich“, so Prof. Zabel.

EU-CERT-ICD IM DETAIL
Die Studie soll belastbare, aktuelle Daten über Risikofaktoren des plötzlichen Herztodes liefern. Im Fokus steht dabei die Frage, ob und in welchem Maße der plötzliche Herztod durch eine vorbeugende ICD-Implantation tatsächlich verhindert wird angesichts niedriger Schockhäufigkeiten. Die neuen Erkenntnisse sollen außerdem dazu beitragen, die sozio-ökonomischen Auswirkungen der Behandlung beurteilen zu können. Die Ergebnisse werden mit Patienten, Patientenorganisationen, Krankenkassen, Ärzten und Akteuren der Gesundheitspolitik diskutiert. Am Ende steht die Neubewertung der gegenwärtigen Leitlinien für den Einsatz von ICDs und deren eventuelle Anpassung.

Mit drei Ansätzen wollen die Wissenschaftler die aktuellen Daten gewinnen. Prospektiv erhobene Daten von 2.500 Patienten ohne Herzrhythmusstörungen, die vorbeugend mit einem Defibrillator versorgt wurden, ermöglichen Auskünfte über die Sterblichkeitsrate sowie die Häufigkeit von korrekten und fehlerhaften Schocks der ICDs. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Beurteilung der Lebensqualität mit und ohne ICD. Dazu entsteht im Rahmen von EU-CERT-ICD das europaweit größte Register von Patienten mit prophylaktischer ICD-Behandlung. 6.000 bereits vorhandene Patientendatensätze werden darin zusammengeführt und liefern wichtige Hinweise über Ereignishäufigkeiten. Als dritte Datenquelle werden die Forscher die Ergebnisse schon veröffentlichter ICD-Studien zusammenfassend analysieren. Darüber hinaus nutzen sie alle Ergebnisse für gesundheitsökonomische Analysen innerhalb des Projekts.

ICD-Therapie in der EU
Aktuell werden in der EU jährlich über 100.000 Defibrillatoren implantiert, die Kosten allein für die Implantation belaufen sich auf über zwei Milliarden Euro jährlich. Implantationsraten und Akzeptanz der aktuellen Richtlinien für den Einsatz von ICDs unterscheiden sich innerhalb der EU-Staaten teilweise erheblich. In Deutschland werden beispielsweise zirka 300 Geräte pro Jahr und Million Einwohner implantiert, in Großbritannien und Spanien nur 80.
WEITERE INFORMATIONEN
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Herzzentrum Göttingen
Klinik für Kardiologie und Pneumologie
Prof. Dr. Markus Zabel
Telefon 0551 / 39-10265
markus.zabel@med.uni-goettingen.de

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Stefan Weller Uni Göttingen

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