Für das «absolute Gehör» wirken zwei Hirnteile zusammen
Mozart soll es gehabt haben, Bach und Beethoven ebenso: das «absolute Gehör». Die Fähigkeit also, einen Ton zu benennen und zu kategorisieren, ohne dazu Vergleichstöne nutzen zu müssen. Die sogenannten Absoluthörenden nehmen einen Ton wahr und können ihn dann präzise zum Beispiel als Cis, A oder Fis bezeichnen, während die meisten Menschen Töne nur relativ unterscheiden können.
Die bemerkenswerte Fähigkeit ist mit einer Prävalenz von einem Prozent in der Normalbevölkerung relativ selten, wird aber bei professionellen Musikern mit 20 Prozent häufiger beobachtet; oft wird vermutet, dass diese besondere Hörfähigkeit ein wesentlicher Aspekt von aussergewöhnlicher Musikbegabung ist.
Im Musik-Lab am Lehrstuhl für Neuropsychologie der UZH wird unter der Leitung von Prof. Lutz Jäncke dieses Phänomen bereits seit vielen Jahren intensiv erforscht. In einer aktuellen Studie mit absolut hörenden Musikern wurden nun Befunde erzielt, die gemäss Erstautor Stefan Elmer eine neue Sicht auf die zugrunde liegenden psychologischen und neurophysiologischen Prozesse beim «absoluten Gehör» eröffnen:
«Mit unserer Studie zeigen wir, wie beim ‹absoluten Hören› zwei Hirngebiete, nämlich der Hörkortex und der dorsale Frontalkortex, zusammenarbeiten. Damit vereinen wir zwei eigentlich entgegengesetzte Erklärungsansätze für das Phänomen miteinander.»
Zwei Theorien zum «absoluten Gehör»
Eine Erklärungslinie geht davon aus, dass Absoluthörer die Töne bereits auf einer sehr frühen Stufe der Tonverarbeitung kategorisieren. Das bedeutet, dass sie Töne gleich wie Sprachlaute verarbeiten und diese bestimmten Kategorien zuordnen, was als kategorielle Wahrnehmung von Tönen bezeichnet wird. Diese These geht damit davon aus, dass die Töne bei Absoluthörern im Gehirn bereits im primären und sekundären Hörkortex verarbeitet werden.
Eine andere Theorie schlägt vor, dass Absoluthörer die Töne erst später verarbeiten und die Töne mit Gedächtnisinformationen assoziieren. Die Menschen mit dieser Begabung sollen insbesondere die unbewussten Zuordnungen der Töne zu Gedächtnisinformationen besonders gut beherrschen; diese Zuordnungen werden vor allem im oberen Stirnhirn, im dorsalen Frontalkortex, vorgenommen. «Beide Theorien machen also hinsichtlich des Zeitpunkts und des anatomischen Ortes der speziellen Verarbeitung völlig unterschiedliche Aussagen und bislang existieren für beide Theorien unterstützende Befunde», so Lutz Jäncke.
Verbundene Hirnareale erklären das Phänomen
In seiner Studie kann Stefan Elmer nun zeigen, dass der linksseitige Hörkortex und der linksseitige dorsale Frontalkortex funktionell bereits im Ruhezustand – das heisst, wenn keine Aufgaben zu bewältigen sind – stark gekoppelt sind. Diese funktionelle Kopplung konnte anhand eines mathematischen Verfahrens geschätzt werden, das mittels Oberflächen-Elektroenzephalogramm (EEG) auf die Hirnaktivitäten im Inneren des Gehirns schliesst. Bei Absoluthörern sind die neurophysiologischen Aktivitäten im Frontal- und Hörkortex synchronisiert, was auf eine enge funktionale Kopplung schliessen lässt.
Das bedeutet, dass die Hirngebiete, welche frühe Wahrnehmungsfunktionen (Hörkortex) bzw. späte Gedächtnisfunktionen (dorsaler Frontalkortex) kontrollieren, bereits im Ruhezustand eng verwoben sind. «Diese Koppelung begünstigt einen besonders effizienten Informationsaustausch zwischen dem Hörkortex und dem dorsalen Frontalkortex bei Absoluthörern, so dass Wahrnehmungs- und Gedächtnisinformationen schnell und effizient ausgetauscht werden können», erläutert Elmer.
Training der auditorischen Wahrnehmung
Die Resultate sind nicht nur für das Verständnis des «absoluten Gehörs» von Bedeutung, sondern auch für das Verständnis effizienter Hörverarbeitung: «Die auditorische Wahrnehmung hängt nicht nur von der Integrität des Hörkortex’ ab, sondern insbesondere auch von der Verknüpfung des Hörkortex’ mit übergeordneten Hirnstrukturen, die Gedächtnisinformationen verarbeiten», fasst Lutz Jäncke zusammen. Auf der Grundlage dieser Befunde könne es möglich werden, Trainingsmassnahmen abzuleiten, welche die Hörleistungen im Alter aber auch im Zusammenhang mit verschiedenen Hörbeeinträchtigungen verbessern würden.
Literatur:
Stefan Elmer, Lars Rogenmoser, Jürg Kühnis und Lutz Jäncke. Bridging the gap between perceptual and cognitive perspectives on absolute pitch. The Journal of Neuroscience, 6. Januar, 2015. Doi: 10.1523/JNEUROSCI.3009-14.2015
Kontakt:
Prof. Lutz Jäncke
Psychologisches Institut / Neuropsychologie
Universität Zürich
Tel. +41 44 635 74 00
E-Mail: l.jaencke@psychologie.uzh.ch
Bettina Jakob
Media Relations
Universität Zürich
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