Fünf Milliarden Euro durch behindertengerechten, barrierefreien Tourismus

Geographen und Verkehrswissenschaftler der Uni Münster erstellten Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums

Bis zu fünf Milliarden Euro im Jahr könnte die Tourismusbranche zusätzlich erwirtschaften, wenn sie auch die Bedürfnisse von behinderten und älteren Menschen optimal berücksichtigen würden. Bis zu 90.000 Arbeitsplätze könnten so geschaffen werden. Das ist das Ergebnis einer Studie vom Institut für Geographie und dem Institut für Verkehrswissenschaft der Universität Münster und den Beratungsunternehmen Neumann Consult und Reppel+Lorenz, die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellt wurde. Mit 20.000 verschickten und 4400 beantworteten Fragebögen ist die Untersuchung die bisher umfangreichste ihrer Art.

„Gefragt haben wir nur nach Übernachtungsurlauben, nicht nach dem Tagestourismus“, erläutert Dr. Peter Neumann den Ansatz der Studie. Während im Bundesdurchschnitt rund 75 Prozent der Deutschen mindestens einmal im Jahr eine Reise antritt, die länger als fünf Tage dauert, sind es bei den Menschen mit Behinderungen lediglich 54 Prozent. Der Rest der Befragten verreist nicht, weil die Barrieren zu hoch sind. „48 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie häufiger verreisen würden, wenn es mehr barrierefreie Angebote gäbe“, so Neumann. „Interessanterweise wird häufig nicht die Unterbringung als Problem angesehen, sondern die Kultur- und Freizeitangebote und die Fortbewegung am Urlaubsort.“

Dabei muss zwischen den unterschiedlichen Beeinträchtigungen differenziert werden: Sehbehinderte Menschen geben weniger Probleme an. „Das mag daran liegen, weil sie häufiger mit einer Begleitperson verreisen, nicht daran, dass die Barrieren für sie geringer sind“, erläutert Neumann, der vor anderthalb Jahren seine eigene Beratungsfirma als Spin-Off aus dem Institut für Geographie gegründet hat. „Viele der Befragten würden auch gerne einmal ohne Begleitperson verreisen können.“

Immerhin 60 Prozent derjenigen, die häufiger verreisen würden, gäbe es adäquate Angebote, gaben an, sie seien bereit, dafür auch ein entsprechendes Entgelt zu bezahlen. Aus diesen Zahlen errechneten die Verkehrswissenschaftler Dr. Werner Allemeyer und Matthias Peistrup das enorme Potenzial von bis zu fünf Milliarden Euro zusätzlich. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Am Grund der Maßnahmen-Pyramide stehen „Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit“, dann folgen Informationsangebote, pragmatische Angebote, differenzierte Angebote und maßgeschneiderte Angebote. „Es lohnt sich nicht, dass zum Beispiel jedes Hotel maßgeschneiderte Angebote, die in der Regel teurer sind, entwickelt“, so Neumann.

Pragmatische Angebote rechnen sich aber auf jeden Fall. Denn es dürfe nicht vergessen werden, dass nicht nur die Reisenden, sondern auch die Anwohner vor Ort von barrierefreien Angeboten profitieren würden. „Abgesenkte Bürgersteige helfen ebenso der Mutter mit Kinderwagen wie dem Rollstuhlfahrer“, erläutert der Geograph. Hochrechnungen auf der Basis der Bundesstatistik zeigen, dass 8,1 Prozent der Deutschen einen Schwerbehindertenausweise hättne, für 20 bis 30 Prozent eine barrierefreie Umwelt notwendig sei. „Und komfortabel ist sie für alle“, fügt Neumann hinzu. Außerdem werde die Bevölkerung immer älter, die Zahl der Behinderungen nehme zu. „Wer nicht in eine barrierefreie Umgebung investiert, wird langfristig nicht stehen bleiben, sondern zurückfallen“, warnt er. Gefordert seien nicht nur private Investoren, sondern auch die öffentliche Hand, die ein entsprechendes Umfeld schaffen müsste.

Zur Unterstützung der Tourismus-Praktiker hat Neumann zusammen mit Reppel+Lorenz im Auftrag des ADAC eine Planungshilfe zur erfolgreichen Entwicklung barrierefreier Angebote erarbeitet. Hier werden Problemsituationen und Schwachpunkte erläutert, wie sie umgangen werden können. Außerdem zu finden sind Positivbeispiele wie die Urlaubsregion „Fränkisches Seenland“ oder die behindertengerechten Stadtführungen in Erfurt, Marburg und München.

Media Contact

Brigitte Nussbaum idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-muenster.de

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Studien Analysen

Hier bietet Ihnen der innovations report interessante Studien und Analysen u. a. aus den Bereichen Wirtschaft und Finanzen, Medizin und Pharma, Ökologie und Umwelt, Energie, Kommunikation und Medien, Verkehr, Arbeit, Familie und Freizeit.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Lebensretter unter der Haut

Erstmals in der UMG Defibrillator mit Brustbein-Elektrode gegen den plötzlichen Herztod implantiert. Im Herzzentrum der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) wurde einem Patienten mit Herzrhythmusstörungen erstmals ein neuartiger Defibrillator mit Brustbein-Elektrode implantiert:…

Studie zeigt Zunahme der UV-Strahlung in Mitteleuropa

Langzeitanalyse zu Daten aus dem deutschen UV-Messnetz erschienen: Ausgabejahr 2024 Datum 28.11.2024 In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die UV–Strahlung in Teilen von Mitteleuropa unerwartet stark erhöht. Zwischen 1997 und…

Stundenlanges Fräsen von Umformwerkzeugen passé

Die Großserienfertigung von Bipolarplatten für Brennstoffzellen erfolgt im Sekundentakt. Um eingesetzte Umformwerkzeuge vor Verschleiß zu schützen, werden sie aus hochwertigen Metalllegierungen gefräst. Im Nationalen Aktionsplan Brennstoffzellen-Produktion (H2GO) geht das Fraunhofer-Institut…