Auf dem Weg zu maßgeschneiderten Medikamenten
Mit "Pharmakogenetik" zur individuellen Arznei-Therapie
In den westlichen Industrienationen werden jährlich Milliarden von Euro wegen Unter- und Überdosierung von Medikamenten ausgegeben. Mitunter wirken Arzneien gar nicht. Doch geht es hier nicht in erster Linie um Gesundheitskosten. Vielmehr kann eine Falschdosierung zu unzureichender Therapie, übermäßigen Nebenwirkungen oder anderen bedrohlichen Folgen für den einzelnen Kranken führen.
Bis vor kurzem konnten Arzneimittel nur nach recht groben Kriterien wie Gewicht oder Nieren- und Leberfunktion dosiert werden. Mehr und mehr finden Pharmakologen aber Möglichkeiten, die Behandlung gezielt dem einzelnen Patienten anzupassen. Grundlage dafür ist die Erkenntnis, dass die individuelle Erbgut-Ausstattung auch bestimmt, wie der Organismus Arzneistoffe verarbeitet. Die Zauberworte lauten "Pharmakogenetik" und "Pharmakogenomik".
An diesen Forschungen maßgeblich beteiligt ist das Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie des Universitätsklinikums Benjamin Franklin (UKBF) / Fachbereich Humanmedizin der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Paul, dessen Institut sich gezielt mit der Erforschung der pharmakogenetischen Grundlagen der Therapie beschäftigt. Ein Beispiel ist die dortige Arbeitsgruppe von Dr. Stefan-Martin Herrmann, wo die Genetik von Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht wird.
Dass Menschen Medikamente unterschiedlich aufnehmen, umwandeln und ausscheiden, hängt mit ihren erblichen Anlagen zusam-men. Diese Erkenntnis wird im Hinblick auf die Pharmakotherapie im recht neuen Gebiet Pharmakogenetik umgesetzt. Es beschäftigt sich vor allem mit der "Verstoffwechselung" (Metabolismus) von Arzneisubstanzen – also damit, was der Organismus mit dem Medikament macht. (Davon unterscheiden muss man, was das Medikament mit dem Organismus macht, die "Pharmakodynamik".) Während sich die "Pharmakogenetik" auf bestimmte einzelne pharmakologisch wichtige Gene bezieht, umfasst die Pharmakogenomik die Gesamtheit aller unterschiedlichen Abfolgen in den Erbbausteinen (Gene).
Vor kurzem wurden die Daten über die Sequenzierung (Bestimmung der Reihenfolge der Bausteine, die den genetischen Code festlegen) des gesamten menschlichen Genoms (die Gesamtheit aller Gene eines Zellkerns) veröffentlicht. Demnach besteht das menschliche Genom aus 40.000 bis 50.000 verschiedenen Genen. Jedes Gen ist für die Bildung eines bestimmten Gen-Produktes (etwa Eiweiße und Enzyme) verantwortlich. Mittlerweile lassen sich bestimmte Gensequenzen definierten Regionen auf Chromosomen zuordnen und in einer Population miteinander vergleichen. So lässt sich auch feststellen, dass und wie unterschiedliche Sequenzabfolgen (genetische Polymorphismen) einen Einfluss auf individuelle Unterschiede bei der Reaktion auf Medikamente haben.
Die präzisere Kenntnis der Gensequenzen hat also einen sehr praktischen Nutzen für die klinische Pharmakologie und für die industrielle Pharmaforschung, denn die genetischen Polymorphismen können unter anderem den Abbau oder den Angriffspunkt eines Medikaments beeinflussen. Ein Medikament kann somit schneller oder langsamer metabolisiert werden und damit stärker oder weniger stark wirksam sein, oder sogar keinen praktischen Effekt haben.
Nur ein Beispiel: Bei einem Krebskranken, der ein Chemotherapeutikum erhält, das bei ihm nur ungenügend oder gar nicht wirkt, kann dies fatale Folgen für seine Überlebenszeit haben. Weist der Tumorpatient einen genetischen Polymorphismus auf, der zu einem zu raschen Abbau eines normalerweise sehr gut wirksamen Medikaments führt, dann wird er von der Chemotherapie in der üblichen Dosierung kaum profitieren. Umgekehrt wird ein Patient, der ein Medikament zu langsam metabolisiert, unter ungewöhnlich starken Nebenwirkungen leiden. Hier würde es helfen, das Mittel niedriger zu dosieren – statt es wegen nicht zu verantwortender Nebenwirkungen abzusetzen.
Genauso verhält es sich auch bei anderen Krankheiten. Erhält etwa ein Patient, der an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leidet, keine optimale Therapie (etwa Blutdruckmittel), wird er vielleicht früher zusätzliche Komplikationen oder einen Herzinfarkt entwickeln als unter einer optimierten Pharmakotherapie.
Die Pharmakogenomik umfasst – wie gesagt – die Gesamtheit genetischer Polymorphismen. Die genannten Beispiele zeigen, dass Patienten von einer Genotypisierung mit dem Ziel der individuelleren Pharmakotherapie profitieren. Eine beachtliche Zahl von Polymorphismen, die zur unterschiedlichen Medikamenten-Verarbeitung führen, ist bereits bekannt. Für die meisten existieren auch schon geeignete Nachweisverfahren. Am Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie des UKBF werden solche Tests bereits vorgenommen. Dazu reichen minimale Mengen an Blut aus.
Herrmanns Arbeitsgruppe untersucht Gene beziehungsweise ganze Gen-Gruppen mittels moderner molekulargenetischer Techniken auf genetische Polymorphismen im Hinblick auf Atherosklerose, Hypertonie und Hirn- bzw. Herzinfarkt. Anschließend werden die Unterschiede in großen Studien-Gruppen analysiert.
Weitere Studien erfolgen in enger Kooperation mit der Arbeitsgruppe um Professor François Cambien vom Nationalen Gesundheitsforschungs-Institut (Inserm), Hôpital Salpétrière der Universität Pierre et Marie Curie in Paris, in dessen Labor Dr. Herrmann fast fünf Jahre lang gearbeitet hat. Erste Ergebnisse liegen vor. So konnte Herrmann bereits nachweisen, dass es genetische Polymorphismen gibt, welche vor dem Herzinfarkt schützen. In einer anderen Studie konnte er Zusammenhänge einer genetischen Variante im Tumor-Nekrose-Faktor-alpha mit Adipositas (Fettsucht) nachweisen.
In einem aktuellen Projekt haben die UKBF-Forscher zusammen mit Professor Karl-Josef Osterziel von der Franz-Volhard-Klinik am Max-Delbrück-Centrum einen Gen-Polymorphismus entdeckt, der die Sterblichkeit bei Patienten mit einer bestimmten Form der chronischen Herzinsuffizienz entscheidend beeinflusste. Dieses Gen ist für die Bildung einer "Andockstelle" (ein Endothelin-Rezeptor) auf der Oberfläche bestimmter Zellen verantwortlich. Patienten, welche diesen Polymorphismus auf dem Endothelin-Rezeptor-Gen trugen, starben mit einer gut fünffach höheren Wahrscheinlichkeit zwei Jahre nach Diagnosestellung als solche, die diese Variante nicht aufwiesen. Das könnte entscheidende Bedeutung für die künftige medikamentöse Therapie haben, insbesondere bei Patienten, welche diesen Endothelin-Rezeptor blockieren (antagonisieren); wahrscheinlich benötigen die beiden Patientengruppen unterschiedliche Therapieansätze. Diese Arbeit wird in Kürze im European Heart Journal erscheinen. Vor kurzem erschienen zudem zwei Artikel über die Behandlung von Patienten mit Herzinsuffizienz, aus denen hervorgeht, dass diese Patienten von einer Therapie mit Endothelin-Rezeptor-Antagonisten erheblich profitierten. Diese Mittel sind in Deutschland noch nicht zugelassen, allerdings könnten Studien wie die oben geschilderten dazu beitragen, die Anwendung solch spezifischer Medikamente voranzutreiben.
Ansprechpartner:
Dr. Stefan-Martin Herrmann
Prof. Dr. Martin Paul (Leiter)
Institut für Klinische Pharmakologie u. Toxikologie
Fachbereich Humanmedizin der FU / UKBF
Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin
Tel.: (030) 8445-2293, Fax: -4482
E-Mail: herrmann@medizin.fu-berlin.de
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