Evolution: Am Ursprung der allerersten Art

An der Wurzel des Lebensbaums: Die erste biologische Art, mit der die Darwinsche Evolution begann, entstand vermutlich aus einem Kollektiv gemischter Genome ohne definierte Arten. © Jose Casadiego, Carolin Hoffrogge und Marc Timme

Das Leben auf der Erde glich anfangs wahrscheinlich einem großen genetischen Durcheinander. Vermutlich irgendwann zwischen 3,8 und 3,5 Milliarden Jahren vor unserer Zeit hat sich dann die erste biologische Art gebildet, aus der sich in der Darwinschen Evolution alle anderen Arten entwickelten.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen und der US-amerikanischen Cornell University schlagen nun einen Weg vor, wie aus dem genetischen Mischmasch die erste definierte Spezies entstanden sein könnte.

Demnach fluktuierte das Leben vor Beginn der Darwinschen Evolution zwischen einem genetisch stark durchmischten und einem teilweise entmischten Zustand hin und her. Im Laufe der Zeit wurde der entmischte Zustand mit einem eng umrissenen genetischen Profil immer stabiler und blieb irgendwann als allererste Art bestehen.

Schon Darwins Skizze vom Baum des Lebens aus dem Jahre 1837 veranschaulichte seine Idee, wie aus existierenden Arten immer wieder neue entstanden sind. Dieser Stammbaum wurde zum Leitbild der Evolutionsforschung und steht auch für den gemeinsamen Ursprung aller Lebewesen und ihre Verwandtschaft bis in die Gegenwart.

Die Wurzel dieses Stammbaums bildet eine eigene Art früher Einzeller, die Ur-Vorfahren aller heute existierenden Lebewesen sind. Doch auch schon vor einer solchen ersten Art, die ihr Erbgut mehr oder weniger unverändert an die nächste Generation weitergab, dürfte es Leben und Evolution gegeben haben.

„Uns faszinierte die Frage, wie die erste Art entstanden ist und wie es zum Übergang zur Darwinschen Evolution kommen konnte“, sagt Marc Timme, Leiter der Forschungsgruppe Netzwerkdynamik am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation.

Einige Evolutionsforscher gehen heute davon aus, dass die ersten biologischen Arten bereits einen recht gut funktionierenden biochemischen Apparat besaßen und im Darwinschen Sinne relativ fit waren. Die Komponenten des Lebens passten aber vielleicht nicht von Anfang an so gut zusammen.

Vermutlich bildete das Leben anfangs ein genetisch stark durchmischtes Kollektiv, in dem die Biochemie der einzelnen Individuen mehr schlecht als recht funktionierte. Vermutlich tauschten auch nicht verwandte Exemplare dieser frühen Lebensformen mittels horizontalen Gentransfers untereinander rege genetisches Material aus. In der Darwinschen Evolution dominiert dagegen der vertikale Gentransfer von einer Generation zur nächsten.

Sporadisch stieg die Fitness der Population

Dank des schwunghaften Gen-Austauschs könnten sich in dem stark durchmischten Zustand an unterschiedlichen Stellen einzelne biochemische Instrumente entwickelt haben, die auch für die Einzeller der ersten definierten Art brauchbar waren. An manchen Stellen fanden vielleicht zufällig auch mehrere dieser Komponenten zusammen.

Hier stieg die Fitness der einzelnen Individuen, sie vermehrten sich schneller und überlebten eventuell auch länger als der Rest, sodass sich ihr genetischer Code ansammelte und etwas aus dem ansonsten genetisch wild durchmischten Kollektiv herausstach. Bei diesen Einzellern deutete sich sporadisch bereits die Entwicklung einer Art an.

Wie Marc Timme gemeinsam mit Hinrich Arnoldt, der am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation forschte, und Steven Strogatz, Wissenschaftler von der Cornell University, nun mit einem einfachen mathematischen Modell zeigt, kann der kollektive Zustand hoher genetischer Durchmischung mit dem zweiten kaum durchmischten Zustand koexistiert haben.

Auch während anfangs der stark durchmischte Zustand vorherrschte, schaltete die evolutionäre Dynamik auch immer wieder in den weniger durchmischten, in dem viele Zellen ähnliche Genome aufwiesen.

In dem genetisch entmischten Zustand höherer biologischer Fitness konnten die Einzeller mit anderen Individuen vermutlich nicht mehr so gut horizontalen Gentransfer betreiben. Denn es dürfte ihnen schwerer gefallen sein, in ihren etwas weiter entwickelten biochemischen Apparat wahllos die Komponenten einzubauen, die ihnen beim horizontalen Genaustausch angedreht werden. Stattdessen dürften die Lebewesen in Phasen genetischer Entmischung ihr Erbgut in der Zellteilung mehr oder weniger unverändert an Tochterzellen weitergegeben haben.

Immer fitter: Vom Kollektiv zur eigenen Art

Anfangs währten die Episoden der genetischen Entmischung jedoch nur kurz. Immer wieder verlor sich der Überlebensvorteil im immer noch großen genetischen Kuddelmuddel wieder. Der horizontale Gentransfer übernahm wieder das Regime – aber nicht mehr so ganz. Und auch ein wenig der überlegenen biologischen Fitness blieb bei einigen Individuen des Kollektivs erhalten. Das bedeutet auch, dass das Kollektiv im Mittel weniger gut horizontalen Gentransfer betreiben konnte und biologisch etwas fitter wurde.

Wie das Modell des deutsch-amerikanischen Forscherteams zeigt, führte die im Schnitt schwindende Kompetenz, horizontal Gene auszutauschen, mit der Zeit dazu, dass sich die Population seltener im stark durchmischten Zustand und öfter im weniger durchmischten Zustand befand. Dadurch kann sich die evolutionäre Entwicklung hin zur ersten biologischen Art nach und nach beschleunigt haben: Mit der erhöhten Fitness der Population nahm deren Fähigkeit zum horizontalen Gentransfer ab, sodass das Kollektiv häufiger und länger in weniger durchmischte Zustände umschaltete, was wiederum die Fitness in einem Teil der Population, aber auch in ihrem Durchschnitt weiter steigen ließ.

Das wichtigste Ergebnis der Forscher weist auf einen qualitativen Übergang hin, der das Hin und Her zwischen stark durchmischtem und entmischtem Zustand beendete: In dem Moment, als die Lebewesen nur noch in geringem Maß horizontal Gene austauschen konnten, wurde der weniger durchmischte Zustand nicht nur sehr häufig, sondern dauerhaft angenommen – denn der stark durchmischte existierte nicht mehr.

„Stark verwandte Zellen mit ähnlichen Genomen können so dauerhaft existieren“, sagt Steven Strogatz. Das heißt: Eine Ur-Spezies könnte sich gebildet haben, weil ein Teil der Population vielleicht eine so gut funktionierende biochemische Grundausstattung in sich vereinigte, dass die Zellen überlebensfähiger waren als der Rest und sich ihr Erbgut höchstens mit kleinen Abweichungen vor allem im vertikalen Gentransfer vermehrte. Ihr genetischer Bauplan stach damit dauerhaft aus dem Rest des Kollektivs hervor: Die erste definierte Art war entstanden und gab den Startschuss für die Darwinsche Evolution.

Ansprechpartner

Carolin Hoffrogge-Lee
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen
Telefon: +49 551 5176-668

Fax: +49 551 5176-702

E-Mail: presse@ds.mpg.de

Dr. Marc Timme
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen
Telefon: +49 551 5176-440

Fax: +49 551 5176-409

E-Mail: timme@nld.ds.mpg.de

Originalpublikation
Hinrich Arnoldt, Steven H. Strogatz und Marc Timme

Simple model for the Darwinian transition in early evolution

Physical Review E, 13. November 2015; doi: 10.1103/PhysRevE.92.052909

Media Contact

Carolin Hoffrogge-Lee Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Sensoren für „Ladezustand“ biologischer Zellen

Ein Team um den Pflanzenbiotechnologen Prof. Dr. Markus Schwarzländer von der Universität Münster und den Biochemiker Prof. Dr. Bruce Morgan von der Universität des Saarlandes hat Biosensoren entwickelt, mit denen…

3D-Tumormodelle für Bauchspeicheldrüsenkrebsforschung an der Universität Halle

Organoide, Innovation und Hoffnung

Transformation der Therapie von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bauchspeicheldrüsenkrebs (Pankreaskarzinom) bleibt eine der schwierigsten Krebsarten, die es zu behandeln gilt, was weltweite Bemühungen zur Erforschung neuer therapeutischer Ansätze anspornt. Eine solche bahnbrechende Initiative…

Leuchtende Zellkerne geben Schlüsselgene preis

Bonner Forscher zeigen, wie Gene, die für Krankheiten relevant sind, leichter identifiziert werden können. Die Identifizierung von Genen, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind, ist eine der großen…