Wenn Nervenzellen Muster für erlerntes Wissen erkennen
Bei Beobachtungen, die auf sogenannten Sinnesdaten beruhen, muss das menschliche Gehirn ständig überprüfen, welche „Version“ von Realität dieser Wahrnehmung zugrunde liegt. Dabei gewinnt es seine Antwort aus sogenannten Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die im Netzwerk der Nervenzellen selbst gespeichert sind. Die Neurone können darin Muster erkennen, die erlerntes Wissen widerspiegeln.
Das belegen Untersuchungen mit Hilfe mathematischer Methoden, die Physiker der Universität Heidelberg gemeinsam mit Wissenschaftlern der Technischen Universität Graz durchgeführt haben. Die aktuellen Forschungsergebnisse sind von großer Bedeutung für die Entwicklung neuartiger Computersysteme. Sie wurden in der Fachzeitschrift „Physical Review“ veröffentlicht.
Eine der wichtigsten Funktionen unseres Gehirns ist es, ein internes Modell unserer Umgebung zu erschaffen. Dabei stehen ihm zwei Kategorien von Information zur Verfügung – das erlernte Wissen über bekannte Objekte und ein stetiger Strom von Sinnesdaten, die mit dem bereits vorhandenen Wissen abgeglichen werden und dieses kontinuierlich ergänzen. Diese Sinnesdaten sind die einfachsten Bausteine der Wahrnehmung, die damit „unmittelbar“ vorliegen.
Dennoch sind Beobachtungen, die auf Sinnesdaten beruhen, oftmals gleichzeitig mit mehreren „Realitäten“ kompatibel, wie das Phänomen der optischen Täuschungen eindrücklich beweist. Das Gehirn steht daher vor der Herausforderung, sich aller möglichen Versionen der zugrundeliegenden Wirklichkeit bewusst zu werden. Dabei springt es zwischen diesen Versionen der Realität hin und her – das Gehirn tastet eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ab.
Die Wissenschaftler um den Heidelberger Physiker Prof. Dr. Karlheinz Meier haben diesen Prozess mit Hilfe formaler mathematischer Methoden auf dem Niveau einzelner Nervenzellen, sogenannter Neurone, untersucht. Das verwendete Modell einzelner Neurone ist dabei strikt deterministisch. Dies bedeutet, dass bei einer wiederholten Stimulation durch äußere Reize immer dasselbe Antwortverhalten hervorgerufen wird. Das Gehirn ist jedoch ein Netzwerk aus miteinander kommunizierenden Neuronen.
Wenn eine Nervenzelle stark genug von ihren Nachbarn angeregt wird, feuert sie einen kurzen elektrischen Puls ab und regt damit ihrerseits andere Neurone an. In einem großen Netzwerk aus aktiven Neuronen werden Nervenzellen dadurch stochastisch – ihre „Antwort“ ist nicht mehr bestimmt, also exakt vorhersagbar, sondern folgt statistischen Regeln der Wahrscheinlichkeit.
„Mit unseren Untersuchungen konnten wir zeigen, dass solche Neurone ihre Antwort aus Wahrscheinlichkeitsverteilungen gewinnen, die im Netzwerk selbst gespeichert sind und von den Nervenzellen abgetastet werden“, erläutert Prof. Meier. Auf diese Weise können Neurone beispielsweise Muster erkennen, die erlerntes Wissen widerspiegeln.
Die Forschungsarbeiten wurden im Rahmen des europäischen Human Brain Project durchgeführt, in dem die Heidelberger Wissenschaftler unter der Leitung von Karlheinz Meier neuartige Computersysteme nach dem Vorbild des Gehirns entwickeln.
„Das Konzept der statistischen Abtastung erlernter Wahrscheinlichkeiten eignet sich sehr gut für eine Umsetzung in einer neuen Architektur für Computer. Es stellt einen Schwerpunkt der aktuellen Forschung unserer Arbeitsgruppe dar“, so der Physiker, der am Kirchhoff-Institut für Physik der Universität Heidelberg lehrt und forscht.
Originalveröffentlichung:
M.A. Petrovici, J. Bill, I. Bytschok, J. Schemmel, and K. Meier: Stochastic inference with spiking neurons in the high-conductance state. Physical Review E 94, 042312 (published 20 October 2016), doi: 10.1103/PhysRevE.94.042312
Kontakt:
Dr. Mihai A. Petrovici
Kirchhoff-Institut für Physik
Telefon (06221) 54-9897
mpedro@kip.uni-heidelberg.de
Kommunikation und Marketing
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