Forscher entschlüsseln die Antriebskräfte der Wanderung großer Eisberge

Wellen brechen sich an einem etwa zwei Kilometer großen Tafeleisberg. Foto: Alfred-Wegener-Institut / T. Ronge

Wenn in absehbarer Zukunft am Larsen-C-Schelfeis in der Antarktis ein Tafeleisberg von der fast siebenfachen Größe Berlins abbricht, beginnt für ihn eine Wanderung, deren Route Klimawissenschaftler des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung schon jetzt ziemlich genau vorzeichnen können.

Den Forschern ist es nämlich gelungen, die Drift antarktischer Eisberge durch das Südpolarmeer treffend zu modellieren und dabei die physikalischen Antriebe ihrer Wanderung und ihres Schmelzens zu identifizieren. Welche Kräfte dabei maßgeblich wirken, hängt nämlich von der Größe des Eisberges ab. Die neuen Ergebnisse sind im Online-Portal des Fachmagazins Journal of Geophysical Research: Oceans erschienen.

Zurzeit schauen Polarforscher aus aller Welt gespannt auf die Antarktische Halbinsel. Am Larsen C-Schelfeis beginnt sich ein riesiger Eisberg vom Schelfeis abzulösen. Der zukünftige Eisberg wird etwa 175 Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle 50 Kilometer breit sein.

Das heißt, seine Gesamtfläche wird fast 6.000 Quadratkilometer betragen und damit etwa 7-mal so groß sein wie das Stadtgebiet Berlins. Mit einem Gesamtgewicht von etwa 1300 Gigatonnen Eis wird der Koloss außerdem fast so viel auf die Waage bringen wie üblicherweise alle im Zeitraum eines Jahres neu entstandenen Eisberge in der Antarktis zusammengenommen.

Wann genau Eiskolosse dieser Größe kalben, lässt sich nicht vorhersagen. Klimawissenschaftler des Alfred-Wegener-Institutes können jetzt aber ziemlich genau prognostizieren, auf welchem Kurs große, mittlere und kleine Eisberge durch das Südpolarmeer wandern – nachdem sie von der Schelfeiskante abgebrochen sind – und welche physikalischen Kräfte die Eismassen antreiben. Je nach Größe der Eisberge gibt es da nämlich entscheidende Unterschiede.

Winzlinge treibt der Wind auf das offene Meer hinaus, die Riesen bleiben in Küstennähe

„Eisberge, die nicht länger und breiter als zwei Kilometer sind, treiben innerhalb weniger Monate von der Schelfeiskante weg und aus dem Küstenbereich heraus. Der Wind drückt sie auf das offene Meer hinaus, wo sie dann im Laufe von zwei bis drei Jahren in kleinere Stücke zerbrechen und schmelzen“, erläutert Thomas Rackow, Klimamodellierer am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und Erstautor der neuen Studie.

Bei Kolossen von der Größe des Larsen-C-Kandidaten spiele der Wind dagegen zunächst kaum eine Rolle. Angetrieben wird die Bewegung hier vor allem durch das Eigengewicht des Eisberges und die Tatsache, dass die Oberfläche des Südpolarmeeres keine ebene Fläche ist, sondern sich Richtung Norden neigt. Das heißt, an der Südküste des Weddellmeeres kann der Meeresspiegel bis zu 0,5 Meter höher liegen als im Zentrum des Weddellmeeres.

„Wenn große Eisberge treiben, dann rutschen sie zunächst die schräge Meeresoberfläche hinunter. Ihre Rutschbahn verläuft dabei jedoch nicht als gerade Linie, sondern schlägt einen Bogen nach links. Der Grund dafür ist die Corioliskraft, welche auf die Erdrotation zurückzuführen ist und die Eisberge letztlich auf eine Bahn parallel zur Küste ablenkt, ähnlich dem Verlauf des Küstenstroms“, erklärt Thomas Rackow.

Auf einer von vier Hauptstraßen Richtung Norden

Die Ablenkung durch die Corioliskraft erklärt auch, warum große Tafeleisberge die ersten drei, vier Jahre in Küstennähe verbleiben. Den Sprung hinaus auf das offene Meer schaffen viele von ihnen erst, sobald der Küstenstrom die Küste verlässt oder wenn sie im Packeis gefangen sind und der Wind das Meereis samt Eisberg von der Küste wegschiebt. „Auf diese Weise gelangen dann auch die großen Tafeleisberge in nördlichere Meeresregionen mit wärmerem Wasser“, so Thomas Rackow.

Einmal in wärmeren Gefilden, beginnen die Tafeleisberge vor allem an der Unterseite zu schmelzen und folgen je nach Ursprungsort einem der vier „Highways“, die alles schwimmende Eis der Antarktis Richtung Norden führen. Eine dieser Eisberg-Autobahnen führt an der Ostküste der Antarktischen Halbinsel entlang aus dem Weddellmeer Richtung Atlantik.

Eine zweite Ausfahrt zweigt auf Höhe des nullten Längengrads am Ostrand des Weddellmeeres ab – etwa dort, wo die deutsche Antarktisstation Neumayer III auf dem Ekström-Schelfeis steht. Die dritte Ausfahrt beginnt auf Höhe des Kerguelen-Plateaus in der Ostantarktis und die vierte führt das Eis aus dem Rossmeer Richtung Norden.

Große Eisberge, die einmal den Weg nach Norden eingeschlagen haben, schaffen es häufig sogar, den 60. südlichen Breitengrad zu überqueren. Das heißt, sie legen bis zu ihrem Schmelztod oft Tausende Kilometer zurück. Einzelne wurden auch schon vor der Küste Südamerikas oder Neuseelands gesichtet.

Wie weit der künftige Larsen-C-Eisberg treiben wird, hängt davon ab, ob er nach dem Abbruch als ganzer Eisberg erhalten bleibt oder schnell in viele kleinere Stücke zerfällt. Zudem könnte der Eisberg auch für einen gewissen Zeitraum auf Grund laufen. „Im ersten Fall stehen die Chancen gut, dass er zunächst für etwa ein Jahr entlang der Antarktischen Halbinsel durch das Weddellmeer treibt. Dann dürfte er Kurs Richtung Nordosten nehmen. Das heißt, er würde in etwa Südgeorgien und die Südlichen Sandwich-Inseln ansteuern“, sagt Thomas Rackow.

Angesichts seiner Gesamtmasse dürfte der Larsen-C-Koloss eine Lebenszeit von acht bis zehn Jahren haben. Älter wird laut Computermodell kaum einer der weißen Wanderer.

Für die neue Studie haben Thomas Rackow und Kollegen die realen Positions- und Größendaten von 6912 antarktischen Eisbergen in das Bremerhavener Meereis-Ozean-Modell FESOM eingespeist und es mit dem dynamisch-thermodynamischen Eisberg-Modell des AWI gekoppelt.

Im Anschluss simulierten die Forscher die Drift und das Schmelzen der Eisberge über einen Zeitraum von zwölf Jahren. Die vom Modell berechneten Routen überprüften sie dann sowohl mit Echtdaten großer Eisberge aus der „Antarctic Iceberg Tracking Database“ als auch mit Positionsdaten von GPS-Sendern, die das AWI bereits in den Jahren 2000 und 2002 auf verschiedenen Eisbergen im Weddellmeer installiert hatte.

„Bei dieser Studie ging es uns in erster Linie darum, zu verstehen, in welcher Region des Südpolarmeeres die großen Eisberge schmelzen und somit große Mengen Süßwasser in das Meer eintragen. Dass es uns nun auch gelungen ist, die grundlegenden Mechanismen so umfassend zu entschlüsseln, freut uns aber umso mehr“, sagt Thomas Rackow.

Hinweise für Redaktionen:

Die Studie ist unter folgendem Titel online erschienen:
Thomas Rackow, Christine Wesche, Ralph Timmermann, Hartmut H. Hellmer, Stephan Juricke, Thomas Jung: A simulation of small to giant Antarctic iceberg evolution: Differential impact on climatology estimates, Journal of Geophysical Research – Oceans, DOI: 10.1002/2016JC012513 (Link: http://dx.doi.org/10.1002/2016JC012513)

Thomas Rackow wird diese neuen Forschungsergebnisse auch auf der Jahrestagung der European Geoscience Union (EGU 2017, 23.-28. April) in Wien vorstellen. Journalisten, die ihn während der EGU General Assembly 2017 vom 23.-28. April 2017 in Wien sprechen wollen, können über das EGU-Pressezentrum einen Raum für ihr Gespräch reservieren. Mehr dazu unter: http://media.egu.eu/

Druckbare Fotos und Grafiken finden Sie in der Online-Version dieser Pressemitteilung unter: http://www.awi.de/nc/ueber-uns/service/presse.html

Ihr wissenschaftlicher Ansprechpartner am Alfred-Wegener-Institut ist Dr. Thomas Rackow, Tel: +49 (0)471 4831 – 1877 (E-Mail: Thomas.Rackow(at)awi.de).

Ihre Ansprechpartnerin in der Abteilung Kommunikation und Medien ist Sina Löschke, Tel: +49 (0)471 4831 – 2008 (E-Mail: medien(at)awi.de).

Das Alfred-Wegener-Institut forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.

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Ralf Röchert idw - Informationsdienst Wissenschaft

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