Dogma gebrochen: "Nervenkitt" kommuniziert!
Lange hielt man Gliazellen lediglich für eine Art Leim, der den Extrazellularraum im Gehirn ausfüllt und die Nervenzellen stabilisiert. Doch nun konnten Forscher der Universität Bonn zusammen mit Schweizer Kollegen erstmalig überzeugend nachweisen, dass der „Nervenkitt“ kommunikativer ist als bisher angenommen: Bestimmte Gliazellen verfügen über kleine Speicherbläschen mit Botenstoffen, so genannten Neurotransmittern, die sie auf ein chemisches Signal hin schlagartig in ihre Umgebung entleeren können – eine Eigenschaft, die bisher im Gehirn nur Neuronen zugesprochen wurde. Das Dogma, die Informationsverarbeitung sei ausschließlich Sache der Neurone, ist damit wohl nicht mehr haltbar. Die Ergebnisse sind in der Juni-Ausgabe von Nature Neuroscience erschienen (Vol. 7 Nr. 6, S. 613-620; http://www.nature.com/neuro/).
Beim Menschen sind Gliazellen (im Griechischen heißt Glia Kitt oder Leim) gegenüber den Nervenzellen, den so genannten Neuronen, weit in der Überzahl: Fast 90% aller Gehirnzellen zählen zu einem der drei Glia-Typen (Astrozyten, Oligodendrozyten, Mikrogliazellen). Dennoch sahen Hirnforscher die Gliazellen lange Zeit lediglich als „Ammen“ an, die die eigentlichen Leistungsträger bei der Informationsverarbeitung, die Neuronen, stützen und ernähren. Seit einigen Jahren mehren sich aber die Anzeichen, dass dem unterschätzten Nervenkitt eine wichtigere Rolle zuzubilligen ist.
Die Wissenschaftler um Professor Dr. Christian Steinhäuser und seinen Schweizer Kollegen Professor Dr. Andrea Volterra konnten diese Vermutungen nun durch molekularbiologische und elektronenmikroskopische Untersuchungen von Hirnpräparaten überzeugend untermauern: „Wir haben in Astrozyten bestimmte Transportproteine gefunden, die man zuvor nur aus Nervenzellen kannte“, erklärt Steinhäuser. In den Neuronen befüllen diese „molekularen Förderbänder“ kleine innerzelluläre Speicherbläschen (Vesikel) mit dem Botenstoff Glutamat. „Wir konnten zeigen, dass es derartige Glutamat-Vesikel auch in den Astrozyten gibt – bislang wurde diese Annahme zum Teil vehement bestritten. Die Transportproteine sitzen in der Membran dieser Bläschen.“ In Zellkulturen wiesen die Forscher nach, dass die Bläschen auch funktionieren: „Werden die Astrozyten durch Aktivierung eines bestimmten Rezeptors stimuliert, verschmelzen die Vesikel von innen mit der Zellmembran und geben dabei ihren Inhalt – das Glutamat – in den Raum zwischen dem Astrozyten und seinen Nachbarzellen ab.“ Das Ganze funktioniert ziemlich flott: Schon nach 0,2 Sekunden haben sich die meisten Speicherbläschen entleert – die chemische Signalübertragung zwischen zwei Nervenzellen im so genannten „synaptischen Spalt“ funktioniert nur wenig schneller. Der freigesetzte Botenstoff aktivierte zudem unmittelbar Glutamat-Rezeptoren in benachbarten Zellen, die die Forscher dort zuvor als „Messsensoren“ abgelegt hatten.
Die untersuchten Astrozyten stammten aus dem Hippokampus, einer Seepferdchen-ähnlichen Hirnstruktur, die bei Lern- und Gedächtnisprozessen eine wesentliche Rolle spielt. Hippokampus-Astrozyten verfügen über eine riesige Zahl fein verzweigter Fortsätze; ein einziger Astrozyt aus dieser Region kann durch den Ausstoß von Glutamat theoretisch bis zu 140.000 Synapsen beeinflussen, die nicht unbedingt in direkter räumlicher Nachbarschaft liegen müssen. „Das astrogliale Glutamat-Signal könnte daher dazu dienen, eine große Zahl von Neuronen zu modulieren“, erklärt Professor Steinhäuser. Sollte diese Vorstellung stimmen, wären die Gliazellen unversehens zu wichtigen Funktionsträgern im Hirn aufgerückt – mit den Astrozyten als Dirigenten, die ein vieltausendstimmiges Orchester aus Nervenzellen im Takt halten.
Ansprechpartner:
Professor Dr. Christian Steinhäuser
Experimentelle Neurobiologie
Institut für Neurochirurgie der Universität Bonn
Telefon: 0228/287-9028 oder -4669
E-Mail: Christian.Steinhaeuser@ukb.uni-bonn.de
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