Tatort Festkörper: Die Fingerabdrücke der Quanteneffekte
In akribischer Detektivarbeit analysiert man in der Festkörperphysik das genaue Zusammenspiel der Elektronen, um dadurch schließlich ein Verständnis für Materialeigenschaften zu erhalten.
Wer Krimis mag, weiß: Am Tatort muss sorgfältig nach Fingerabdrücken gesucht werden, dann kann man möglicherweise den Fall aufklären. In der modernen Festkörperphysik sind es Streuprozesse – Wechselwirkungen zwischen Elektronen – die es erlauben, Schritt für Schritt der Wahrheit näher zu kommen.
Besonders schwierig ist das bei komplizierten Materialien, bei denen viele Elektronen gleichzeitig eine Rolle spielen: Bei sogenannten „Vielelektronensystemen“ können hundert Trilliarden Elektronen miteinander in Verbindung stehen und Energie und Impuls austauschen. An der TU Wien, der Universität Tübingen und der École Polytechnique in Paris sind nun wichtige Fortschritte gelungen: Man konnte mit mathematischen Methoden neue Strukturen erkennen – die sogenannten „Fingerabdrücke“, Muster im Gewimmel dieser Streuprozesse, die helfen sollen, den „Fall“ aufzuklären.
Streuprozesse und Materialeigenschaften
Streuprozesse bestimmen unter anderem die Mobilität der Ladungsträger und entscheiden damit, ob das System metallisches, isolierendes oder sogar supraleitendes Verhalten zeigt. Einfacher gesagt, geben diese mathematischen Größen an, wie stark die Elektronen einander in Festkörpern „spüren“. Mithilfe aufwendiger Computersimulationen wird versucht, den physikalischen Eigenschaften dieser komplexen Systeme auf die Spur zu kommen. Dabei geht es um die Suche nach Antworten auf grundlegende Fragen der Festkörperphysik, beispielsweise „Wie funktionieren unkonventionelle Supraleiter“, oder „Wie gehen quantenphysikalische Phasenübergänge am absoluten Nullpunkt vonstatten“?
Die Arbeitsgruppe der TU Wien von Prof. Alessandro Toschi (Patrick Chalupa, Matthias Reitner und Dr. Daniel Springer) hat hier in einer internationalen Zusammenarbeit einen wichtigen Fortschritt gemacht – gemeinsam mit der Universität Tübingen (Prof. Sabine Andergassen) und der École Polytechnique in Paris (Dr. Thomas Schäfer, mittlerweile Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart). Durch eine tiefgreifende Analyse von Streuprozessen und deren Vergleich in verschiedenen physikalischen Situationen konnten eindeutige „Fingerabdrücke“ identifiziert werden. Die Ergebnisse der Studie wurden im Journal Physical Review Letters veröffentlicht.
Neue Zusammenhänge aufdecken
Ähnlich wie Forensiker am Tatort versuchten die Forscherinnen und Forscher aus vielen kleinen Details einen größeren Zusammenhang herzustellen. So ist es gelungen, in den komplexen mathematischen Größen, die diese Streuprozesse beschreiben, charakteristische Strukturen zu identifizieren und mit zwei fundamentalen Phänomenen der Festkörperphysik in Verbindung zu bringen. Hierbei handelt es sich um die Bildung lokaler magnetischer Momente, sowie deren Abschirmung im Zuge des sogenannten Kondoeffekts, Phänomene die die Mobilität von Elektronen entscheidend beeinflussen. Diese Verbindung erlaubt es nun schon auf einen einzigen Blick die dominanten physikalischen Prozesse aus den komplizierten Streuprozessen herauszulesen. Durch das Bestimmen der „Fingerabdrücke“ konnte sogar ein neues Kriterium gefunden werden, das eine alternative Berechnung einer fundamentalen Energieskala der theoretischen Festkörperphysik ermöglicht: die Kondotemperatur.
In weiterer Folge könnten diese Ergebnisse ein neues Licht auf seit Jahrzehnten ungelöste „Krimis“ der Festkörperphysik werfen, wie zum Beispiel die Quantenkritikalität in Schwerfermionensystemen, unkonventionelle Supraleitung in korrelierten Quantenmaterialien oder überraschende magnetische Phänomene in Übergangsmetalloxiden. Die korrekte Bestimmung der zugrundeliegenden Quantenfingerabdrücke könnte die Forschung auf die richtige Spur bringen, um diesen spannenden Phänomenen auf die Schliche zu kommen.
Diese Forschungsarbeit wurde vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) und der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen eines DACH-Projekts (I 2794-N35) finanziert.
Originalpublikation
Patrick Chalupa, Thomas Schäfer, Matthias Reitner, Daniel Springer, Sabine Andergassen, and Alessandro Toschi: „Fingerprints of the local moment formation and its Kondo screening in the generalized susceptibilities of many-electron problems.“ Physical Review Letters 126 056403 (2021).
Pressemitteilung der Uni Tübingen
Kontakt
Dipl.-Ing. Patrick Chalupa
Institut für Festkörperphysik
Technische Universität Wien
+43 1 58801 13758
chalupa.patrick@gmail.com
Prof. Dr. Alessandro Toschi
Institut für Festkörperphysik
Technische Universität Wien
+43 1 58801 13762
toschi@ifp.tuwien.ac.at
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