Neuartiges zelluläres Logistiksystem identifiziert

Die bakteriellen Min-Proteine bilden Muster (rot) und können andere Moleküle (blau) durch Diffusiophorese transportieren.
Bild: Ramm et al., Nature Physics 2021

Biophysiker haben gezeigt, dass die sogenannte Diffusiophorese, die einen gerichteten Transport ermöglicht, in biologischen Systemen vorkommen kann.

Damit Zellen ihre biologischen Funktionen erfüllen können, muss ihre interne Logistik reibungslos funktionieren. Dazu gehört, dass Moleküle zur richtigen Zeit an den richtigen Ort transportiert werden. Die meisten bekannten zellulären Transportmechanismen beruhen auf spezifischen Wechselwirkungen zwischen der zu transportierenden Fracht und Motormolekülen, die sich unter Energieverbrauch aktiv fortbewegen.

Ein Team um die Physiker Erwin Frey, Inhaber des Lehrstuhls für Statistische und Biologische Physik an der LMU, und Petra Schwille vom Max-Planck-Institut für Biochemie hat nun erstmals gezeigt, dass in der Zelle auch ein gerichteter Transport beliebiger Teilchen erfolgen kann, ohne dass molekulare Motoren beteiligt sind. Dabei können die Teilchen sogar entsprechend ihrer Größe sortiert werden, wie die Forscher im Fachmagazin Nature Physics berichten.

Konkret untersuchten die Wissenschaftler ein wichtiges Modell für die biologische Musterbildung, das Min-System des Bakteriums E. coli. Dabei pendeln die Proteine MinE und MinD zwischen den beiden Enden der Zelle und erzeugen ein Muster, das die Teilung der Zelle steuert. Die Wissenschaftler stellten dieses System im Reagenzglas auf einer künstlichen Membran nach und entdeckten, dass die Min-Proteine beim Pendeln viele verschiedene Moleküle als „blinde Passagiere“ mitnehmen können – darunter auch solche, die in keinem Zusammenhang mit der Musterbildung stehen und in der Zelle natürlicherweise gar nicht vorkommen.

Sortiermaschine für DNA-Origami

Um den Transportmechanismus noch genauer zu testen, verwendeten die Forscher in weiteren Untersuchungen DNA-Origami-Strukturen mit beliebig veränderbaren Bausteinen als Fracht. „Unsere Experimente haben gezeigt, dass der Transport von der Größe der jeweiligen Fracht abhängt und dass MinD diese Strukturen sogar nach der Größe sortieren kann“, sagt Beatrice Ramm, Postdoktorandin in Petra Schwilles Abteilung und eine der Erstautorinnen der Studie. Mithilfe theoretischer Analysen identifizierte Freys Team als zugrundeliegenden Mechanismus die sogenannte Diffusiophorese, die gerichtete Bewegung von Partikeln entlang eines Konzentrationsgradienten.

Im Min-System bewirkt die Reibung zwischen Fracht und diffundierendem Min-Protein den Transport der Ladung. Entscheidend sind dabei nicht spezifische biochemische Wechselwirkungen, wie es beim gezielten Transport der Fall ist, sondern die effektive Teilchengröße. „Teilchen, die aufgrund ihrer Größe eine stärkere Reibung verursachen, werden auch weiter transportiert – das erklärt die Sortierung nach der Größe“, sagt Andriy Goychuk, ebenfalls Erstautor der Studie.

Mit ihren Ergebnissen konnten die Wissenschaftler den rein physikalischen Transport durch Diffusiophorese erstmals in einem biologischen Musterbildungssystemen nachweisen. „Dieser Prozess ist so einfach und fundamental, dass er auch in verschiedenen anderen zellulären Prozessen vorkommen könnte und eventuell in den ersten Zellen am Ursprung des Lebens eingesetzt wurde“, sagt Frey. „Möglicherweise könnte man ihn in Zukunft aber auch verwenden, um Moleküle in sogenannten künstlichen, minimalen Zellen zu positionieren.“

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Erwin Frey
Statistical and Biological Physics
Arnold Sommerfeld Center for Theoretical Physics
Ludwig-Maximilians-Universität München
Tel.: +49 (0) 89 / 2180-4538
E-Mail: erwin.frey@physik.lmu.de
http://www.theorie.physik.uni-muenchen.de/lsfrey/members/group_leaders/erwin_fre…

Originalpublikation:

A diffusiophoretic mechanism for ATP-driven transport without motor proteins
Beatrice Ramm, Andriy Goychuk, Alena Khmelinskaia, Philipp Blumhardt, Hiromune Eto, Kristina A. Ganzinger, Erwin Frey & Petra Schwille
Nature Physics 2021

https://www.lmu.de/de/newsroom/news-und-events/news/neuartiges-zellulaeres-logistiksystem-identifiziert.html

Media Contact

LMU Stabsstelle Kommunikation und Presse
Ludwig-Maximilians-Universität München

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Spitzenforschung in der Bioprozesstechnik

Das IMC Krems University of Applied Sciences (IMC Krems) hat sich im Bereich Bioprocess Engineering (Bioprozess- oder Prozesstechnik) als Institution mit herausragender Expertise im Bereich Fermentationstechnologie etabliert. Unter der Leitung…

Datensammler am Meeresgrund

Neuer Messknoten vor Boknis Eck wurde heute installiert. In der Eckernförder Bucht, knapp zwei Kilometer vor der Küste, befindet sich eine der ältesten marinen Zeitserienstationen weltweit: Boknis Eck. Seit 1957…

Rotorblätter für Mega-Windkraftanlagen optimiert

Ein internationales Forschungsteam an der Fachhochschule (FH) Kiel hat die aerodynamischen Profile von Rotorblättern von Mega-Windkraftanlagen optimiert. Hierfür analysierte das Team den Übergangsbereich von Rotorblättern direkt an der Rotornabe, der…