Die komplexe Aufgabe Kurs zu halten

Fruchtfliegen, die keine Bewegungen wahrnehmen können, haben Probleme ihren Kurs im freien Flug zu halten.
© MPI für Neurobiologie / Julia Kuhl

Mit verbundenen Augen geradeaus zu laufen, ist ein schwieriges Unterfangen. Meist endet es darin, dass wir im Kreis laufen. Fruchtfliegen, die keine Bewegung erkennen können, geht es ähnlich im freien Flug: Sie schaffen es nur kurze Strecken geradeaus zu fliegen, wie Forschende am Max-Planck-Institut für Neurobiologie nun zeigen. Das Bewegungssehen ist somit die Komponente der visuellen Wahrnehmung, die entscheidend zur Kurskontrolle bei Fruchtfliegen beiträgt.

In gerader Linie auf einen Baum zuzulaufen, ist für uns nicht sonderlich schwierig. Mit verbundenen Augen sieht das aber schon ganz anders aus. Bereits vor etwa hundert Jahren zeigte der Forscher Asa Schaeffer, dass wir in diesem Fall nicht lange geradeaus laufen. Nach kürzester Zeit beginnen wir zu einer Seite abzudriften und in Kreisen zu laufen – den Baum erreichen wir meist nie.

Doch warum ist das so? Welche Berechnungen im Gehirn halten uns bei geöffneten Augen auf Spur? Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen. Man möchte meinen, dass Geradeauslaufen kein Problem ist, solange ein Orientierungspunkt (in diesem Fall ein Baum) in unserem Blickfeld ist: Wir können unsere Position jederzeit anpassen, damit der Orientierungspunkt genau vor uns bleibt.

Die andere Erklärung für das gezielte Geradeauslaufen ist eine Orientierung am sogenannten „optischen Fluss“: Wenn wir zum Beispiel mit dem Auto eine Allee entlangfahren, dann strömen die Bäume in unserem Blickfeld auf beiden Seiten von vorne nach hinten. Wenn die Straße gerade ist, ist der Fluss der Bäume auf beiden Seiten gleich – ganz anders als bei einer Kurve. Der Fluss der Objekte in unserem Sichtfeld kann somit auch Rückschlüsse darauf liefern, ob wir geradeaus fahren oder nicht.

Um diese Alternativen für das Spurhalten zu untersuchen, müsste die Komponente des visuellen Systems entfernt werden, die für das Wahrnehmen des optischen Flusses verantwortlich ist: das Bewegungssehen. Am Menschen sind solche Experimente nicht möglich. Fruchtfliegen bieten im Gegensatz dazu viele Optionen dieser Frage auf den Grund zu gehen. Sie sind derzeit die einzigen Tiere, in denen das Bewegungssehen genetisch ausgeschaltet werden kann – ohne dabei die Orientierung an Landmarken und andere visuelle Funktionen zu beeinträchtigen.

Maria-Bianca Leonte und ihre Kollegen aus der Abteilung von Alexander Borst untersuchten daher, wie Fruchtfliegen unter verschiedenen Bedingungen ihren Kurs kontrollieren. Um dabei möglichst realistische Bedingungen zu schaffen, beobachteten sie die Fliegen in einer Arena im freien Flug.

Zunächst untersuchte Maria-Bianca Leonte das Flugverhalten in völliger Dunkelheit. Es zeigt sich, dass Fliegen, ähnlich wie Menschen mit verbundenen Augen, nicht mehr in der Lage sind längere Strecken geradeaus zu fliegen. Sehen ist also auch für Fliegen wichtig, um auf Kurs zu bleiben. Ist jedoch die Orientierung an Landmarken oder der optische Fluss die entscheidende visuelle Komponente für die Kurssteuerung? Zur Beantwortung dieser Frage, machten die Wissenschaftler:innen die Fliegen bewegungsblind: Im winzigen Fliegengehirn schalteten sie die Nervenzellen aus, die bekanntermaßen die Richtung von Bewegungen berechnen. Es stellte sich heraus, dass bewegungsblinde Fliegen, ähnlich wie Fliegen im Dunkeln, nicht lange geradeaus fliegen können.

Um die Ergebnisse weiter zu überprüfen, erschwerten die Forschenden die Flugbedingungen zusätzlich, indem sie einen Flügel um ein winziges Stück kürzten. Normal-sehende Fliegen konnten diese aerodynamischen Veränderungen ohne Probleme ausgleichen. Fliegen im Dunkeln und bewegungsblinde Fliegen begannen hingegen im Kreis zu fliegen.

Maria-Bianca Leonte erklärt: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass bei Fliegen das Bewegungssehen der Schlüssel zur Kurskontrolle ist, nicht die Orientierung an Landmarken. Mit unserem Versuchsaufbau können wir nun auch untersuchen, welche Rolle andere sensorische Komponenten bei der Kurskontrolle spielen und wie sie mit dem Bewegungssehen interagieren“.

KONTAKT:
Dr. Christina Bielmeier
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
E-Mail: bielmeier@neuro.mpg.de

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Alexander Borst
Abteilung Schaltkreise – Information – Modelle
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Email: thalhammer@neuro.mpg.de

Originalpublikation:

Maria-Bianca Leonte, Aljoscha Leonhardt, Alexander Borst, Alex S. Mauss
Aerial course stabilization is impaired in motion-blind flies
Journal of Experimental Biology, 23.07.2021
DOI: 10.1242/jeb.242219

Weitere Informationen:

https://www.neuro.mpg.de/borst/de – Webseite der Forschungsabteilung
https://www.neuro.mpg.de/news/2021-07-borst/de – Hier finden Sie eine Audioversion der Pressemitteilung.

Media Contact

Dr. Stefanie Merker Presse und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie

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