TV-Doku: Sozialismus 2.0
Hans Gert Gräbe ist gelernter Mathematiker mit einer Professor für Informatik an der Uni Leipzig, außerdem Sozialist der modernsten Prägung. Darin hat sich das kollektive Einheitswesen von Engels und Marx zum kooperativen Bürger unterschiedlicher Interessen gewandelt. Susanne Päch spricht in der HYPERRAUM.TV-Doku „Sozialismus 2.0 – Gräbe: Nicht das Selbst, sondern die Verbindungen machen uns aus“ mit dem Mathematiker und Systemtheoretiker, der in Russland sozialisiert wurde und in Minsk promovierte, über dessen Ansichten zu Begriffen wie Individuum und Gesellschaft.
Tatsächlich ist der in der westlichen Kultur so stark ausgeprägte Wert der individuellen Freiheit vor allem ein Kennzeichen der christlich-abendländischen Wertegesellschaft, die in anderen Kulturen auf dem Erdball längst nicht so dominant ist. Gräbe kritisiert gleich zu Beginn des Gesprächs diese seiner Meinung nach gänzlich übersteigerte Freiheitsliebe der westlichen Zivilisation: Kopernikus habe zwar die Erde im 16. Jahrhundert aus dem Mittelpunkt des Universums genommen, dafür aber wurde das Individuum des Abendlandes dort sofort wieder hineinstellt.
Stattdessen gehe es darum, dass der kooperative Bürger in wechselnden Kollektiven von Gleichgesinnten versuchen müsse, eigene Vorstellungen gewaltlos umzusetzen. Mit seinem Ansatz verliert das Individuum nicht nur seine Bedeutung. Gleichzeitig entzieht er auch ethischen, weil nur auf den Einzelnen gerichteten Betrachtungen jeglichen Boden. „Denn das, was uns bestimmt,“ so bringt es Gräbe auf den Punkt, “sind die Beziehungen, nicht das Selbst.“
Gräbe ist daher auch der Auffassung, dass es keinen Sinn macht, manipulative Wirkungsmechanismen – beispielsweise die heute diskutierten, fragwürdigen Auswirkungen von Netz-Algorithmen, die bis zu Fake-News und Filterblasen reichen – auf einzelne Nutzer herunterzubrechen. Alles wird für Gräbe nur begründbar mit unterschiedlichen Interessenlagen, denen sich die Gesellschaft auch im Fall bedenklicher Wirkungen jederzeit entgegenstellen kann und muss, während der einzelne Betroffene dabei gänzlich wirkungslos bleibt. Handeln und Gestalten im Spannungsfeld kollektiver Interessen als oberste Maxime. Und in diesem Spiel der Kräfte gewinnt eben der, der seine Interessen am besten durchzusetzen weiß. Das Individuum als letztlich irrelevanter Einzelpunkt in der vernetzten gesellschaftlichen Struktur, der die Interessen im Spiel unterschiedlicher Kräfte nur in Gemeinschaft mit anderen austarieren kann.
Man muss den von Gräbe vorgestellten, ungewöhnlichen Blick auf das Individuum nicht teilen, aber der anders gelagerte Blick in dennoch interessant. Und natürlich weiß auch Gräbe, dass jedes System sowohl von den von ihm so priorisierten Verbindungen als auch „von den Knotenpunkten“ her – also dem Individuum – betrachtet werden kann. So endet das Gespräch doch irgendwie versöhnlich. Denn auf die Frage, was sich ein Systemtheoretiker mit dieser Sicht auf die vernetzt bestimmten Knotenpunkte zuletzt wünschen würde, kommt eine gleichermaßen kurze wie prägnante Antwort: Er wünsche sich „mehr Vernunft!“ Die ultima ratio: Irgendwie dann doch das selbstbestimmte Individuum Kantscher Prägung – ganz unabhängig davon, in welche wie vernetzten Handlungen es in der Gesellschaft auch verstrickt sein mag.
Ansprechpartner:
Dr. Susanne Päch
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