So findet man Wirkstoffe gegen Krebs
Forschende am Paul Scherrer Institut PSI und dem Istituto Italiano di Tecnologia IIT haben eine neuartige Substanz entwickelt, die ein Protein im Zellskelett lahmlegt und dadurch zum Zelltod führt. Substanzen dieser Art können so beispielsweise Tumore am Wachstum hindern. Für ihre Arbeit kombinierten die Forschenden eine strukturbiologische Vorgehensweise mit Wirkstoffdesign am Computer. Die Studie ist in dem Journal Angewandte Chemie International Edition erschienen.
Das Zellskelett, auch Zytoskelett genannt, durchzieht als dynamisches Geflecht von fadenähnlichen Proteinstrukturen alle unsere Zellen. Es gibt ihnen ihre Form, hilft dabei, Proteine und grössere Zellbestandteile zu transportieren, und spielt eine entscheidende Rolle bei der Zellteilung. Zentraler Baustein ist das Protein Tubulin. Es ordnet sich zu röhrenförmigen Strukturen an, den Mikrotubuli-Filamenten.
Wirkstoffe, die am Zellskelett ansetzen, gehören zu den wirksamsten Medikamenten gegen Krebs. Sie binden an Tubulin, blockieren es und verhindern so die Zellteilung bei Tumoren. PSI-Forschende haben in Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano di Tecnologia in Genua jetzt eine weitere potente Substanz entwickelt, die Tubulin lahmlegt. Sie tauften sie «Todalam».
«Todalam verhindert, dass sich Tubulin in Form von Mikrotubuli-Filamenten anordnen kann», erklärt Erstautor Tobias Mühlethaler, der die Substanz im Rahmen seiner Doktorarbeit am PSI mit entwarf und untersuchte. «Das Protein verharrt wie eingefroren in einer Struktur, die nicht in die Mikrotubuli passt.»
Gezielt entworfen
Um neue Medikamente zu entwickeln, gibt es typischerweise zwei unterschiedliche Herangehensweisen: Forschende testen entweder eine riesige Zahl von Molekülen, um diejenigen herauszufischen, die vielversprechend erscheinen. Oder sie entwerfen gezielt chemische Moleküle, welche die gewünschte Wirkung erzielen. Die PSI- und IIT-Forschenden wählten den zweiten, oft schwierigeren Weg.
Dazu konnten sie auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen, bei der sie bereits Stellen im Tubulin lokalisiert hatten, an denen Moleküle besonders gut andocken können. Das sind die sogenannten Bindungstaschen, von denen sie 27 fanden. Zudem identifizierten die Forschenden 56 Fragmente, die an diese Stellen binden. Auch diese Arbeiten wurden bereits in der Angewandten Chemie International Edition veröffentlicht.
In der aktuellen, darauf aufbauenden Studie wählten die Forschenden zunächst eine neu entdeckte Bindungstasche am Tubulin. Dann kombinierten sie am Computer die Strukturen von drei Molekülfragmenten, die bevorzugt an dieser Stelle andocken, zu einer einzigen chemischen Verbindung und synthetisierten diese im Labor. «Indem wir die drei Fragmente miteinander zu einem Molekül verbanden, erhofften wir uns, die Wirkung zu erhöhen, da das neue Molekül die Bindungstasche besser ausfüllt», sagt Michel Steinmetz, Leiter des Labors für Biomolekulare Forschung am PSI.
Mittels Messungen an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS überprüften die Forschenden, wie sich das Molekül in der Realität in die Bindungstasche einfügt. In zwei weiteren Zyklen verbesserten sie die Substanz, bis sie zu Todalam gelangten. «Mit relativ einfacher Chemie gelangten wir zu einer potenten Verbindung», sagt Andrea Prota stolz, ein Wissenschaftler in der Steinmetz-Gruppe, der eng mit Mühlethaler zusammengearbeitet hat.
Einfache chemische Struktur
In Zellkulturen wiesen die Forschenden nach, dass Todalam Zellen tötet. Kein Wunder, denn Tubulin ist lebenswichtig. «Je besser eine Substanz an einer kritischen Stelle im Tubulin bindet, desto giftiger ist sie für die Zellen», erklärt Steinmetz. Das macht Todalam zu einem vielversprechenden Ausgangspunkt, um daraus ein Medikament zu entwickeln.
Die derzeit klinisch eingesetzten Zellskeletthemmer sind Naturstoffe mit grossen komplexen Strukturen und dementsprechend schwierig zu synthetisieren. Die neu entwickelte Verbindung Todalam lässt sich hingegen in einer einfachen chemischen Synthese im Labor herstellen. «Das bedeutet auch, dass man die Verbindung relativ leicht in grossen Mengen produzieren könnte», betont Steinmetz.
Text: Paul Scherrer Institut/Brigitte Osterath
Über das PSI
Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Materie und Material, Energie und Umwelt sowie Mensch und Gesundheit. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2100 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 400 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Michel Steinmetz
Leiter des Labors für Biomolekulare Forschung
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 47 54, E-Mail: michel.steinmetz@psi.ch [Deutsch, Englisch, Französisch]
Dr. Andrea Prota
Labor für Biomolekulare Forschung
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 51 60, E-Mail: andrea.prota@psi.ch [Deutsch, Englisch, Italienisch]
Originalpublikation:
Rational Design of a Novel Tubulin Inhibitor with a Unique Mechanism of Action
Tobias Mühlethaler, Lampros Milanos, Jose Antonio Martínez, Thorsten Blum, Dario Gioia, Bibhas Roy, Andrea Prota, Andrea Cavalli, Michel O. Steinmetz
Angewandte Chemie International Edition, 11.04.2022 (online)
DOI: doi.org/10.1002/anie.202204052
Weitere Informationen:
http://psi.ch/de/node/51112 – Darstellung der Mitteilung auf der Webseite des PSI mit Bildmaterial
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