Lange gesuchtes Teilchen aus vier Neutronen entdeckt

Schematische Darstellung der Reaktions-Kinematik im Labor- and Schwerpunkts-System.
M. Duer et al.

Ein internationales Forschungsteam hat nach 60 Jahren vergeblicher Suche erstmals einen neutralen Kern entdeckt – das Tetra-Neutron.

Der Kollaboration gelang es, ein isoliertes Vier-Neutronen-System mit geringer kinetischer Relativenergie in einem Volumen entsprechend eines Atomkerns zu erzeugen. Die Forschenden überwanden die experimentelle Herausforderung durch den Einsatz einer neuen Methode: Dabei wurden ein radioaktiver neutronenreicher ⁸He-Strahl und eine schnelle hochenergetische Reaktion mit einem Proton eingesetzt.

Das Experiment wurde an der Beschleunigeranlage für radioaktive Strahlen (RIBF) am RIKEN-Forschungszentrum in Japan durchgeführt. Beteiligt an der großen internationalen Kollaboration waren neben der Technischen Universität München (TUM) und des Exzellenzclusters ORIGINS auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Darmstadt, des RIKEN Nishina Centers sowie des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung in Darmstadt. Das Experiment lieferte ein zweifelfreies Signal für die erste Beobachtung des Tetra-Neutrons. Das Resultat wurde in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.

Verwandtschaft im Universum

Die Bausteine von Atomkernen sind die Nukleonen, die in zwei Arten vorkommen, den neutralen Neutronen und den positiv geladenen Protonen – den beiden sogenannten Isospin-Zuständen des Nukleons. Gebundene Kerne, die ausschließlich aus Neutronen aufgebaut sind, wurden bisher noch nie eindeutig nachgewiesen. Die einzigen bekannten gebundenen Systeme, die fast ausschließlich aus Neutronen bestehen, sind die Neutronensterne. Dabei handelt es sich um Endstadien der Sternentwicklung mit einem typischen Durchmesser von etwa zehn Kilometer. Diese Sterne sind stabil (gebunden) durch die Gravitation, die zu einer sehr hohen Neutronendichte im Inneren der Sternleichen führt. Atomkerne wiederum sind durch die starke Wechselwirkung gebunden, mit Präferenz eine vergleichbare Zahl an Neutronen und Protonen zu binden – das ist bekannt von den stabilen Kernen, wie sie auf unserer Erde zu finden sind.

Die Erforschung von reinen Neutronen-Systemen ist aber von großer Bedeutung, da sich nur so experimentelle Erkenntnisse über die Wechselwirkung mehrerer Neutronen untereinander und damit über die nukleare Wechselwirkung gewinnen lassen. Die Erforschung der bisher hypothetischen Teilchen könnte zudem helfen, die Eigenschaften von Neutronensternen besser zu verstehen. Herauszufinden, ob solche Neutronen-Systeme als Resonanzzustände oder gar gebundene Kerne vorliegen, ist daher ein seit langem bestehendes Bestreben der Kernphysik. Das internationale Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat dazu nun einen neuen Anlauf genommen und eine neue experimentelle Methode eingesetzt, die sich von allen bisherigen Versuchen unterscheidet.

Referenzwert für die Theorie

„Dieser experimentelle Durchbruch liefert einen Referenzwert für die Theorie zum Verständnis der Wechselwirkungen von Isospin-reinen Nukleonen-Verbünden und damit auch der Eigenschaften neutronenreicher Kerne. Die nukleare Wechselwirkung zwischen mehr als zwei Neutronen konnte bisher nicht experimentell geprüft werden, während theoretische Vorhersagen zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen“, berichtet Dr. Meytal Duer vom Institut für Kernphysik der TU Darmstadt.

Die experimentelle Untersuchung von reinen Neutronen-Systemen stellt eine große Herausforderung dar, da es keine Möglichkeit gibt ein Neutronen-Target herzustellen. Um nun ein Multi-Neutronen-System in einem Volumen zu erzeugen, so dass die Neutronen untereinander über die kurzreichweitige Kernkraft (wenige Femtometer, 10^-15 Meter) in Wechselwirkung treten können, müssen Reaktionen eingesetzt werden. Dabei besteht die Gefahr, dass die Neutronen mit anderen Teilchen, die an der Reaktion beteiligt sind, im Endzustand wechselwirken, was wiederum das eigentliche Signal verändert oder unsichtbar macht. Die Forschenden haben diese Schwierigkeit durch den Einsatz eines hochenergetischen ⁸He-Strahls gelöst. Der ⁸He-Kern besteht aus einem kompakten Alpha-Teilchen, das von vier Neutronen umgeben wird. Das Alpha-Teilchen wird nun in einer schnellen Reaktion mit großem Impulsübertrag durch Stoß mit einem Proton des Flüssigwasserstoff-Targets aus dem ⁸He-Kern herausgeschossen: Die verbleibenden vier Neutronen sind plötzlich frei und alleine und können untereinander wechselwirken.

Eine geniale Idee

„Nur eine optimale Verbindung unterschiedlicher Faktoren haben die erfolgreiche Entdeckung des Tetra-Neutrons möglich gemacht. Da ist die geniale Idee genau die richtige Reaktion zu wählen, die weltweit leistungsfähigste Anlage für leichte exotische Strahlen, ein Experimentaufbau der genau für diese Reaktion entwickelt und optimiert wurde, und nicht zuletzt ein Team aus begeisterten Wissenschaftlern die sich zu 100 Prozent mit der Aufgabe identifizieren“, führt ORIGINS PI Dr. Roman Gernhäuser des Zentralen Technologielabors am Physik Department der TUM aus.

Die Arbeit zur Entdeckung des Tetra-Neutrons wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über den Sonderforschungsbereich 1245 und dem Exzellenzcluster ORIGINS, EXC-2094 – 390783311 gefördert.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Roman Gernhäuser
Technische Universität München, Exzellenzcluster ORIGINS
E-Mail: roman.gernhaeuser@ph.tum.de

Originalpublikation:

M. Duer, T. Aumann, R. Gernhäuser et al.: „Observation of a four-neutron resonance“, Nature (2022)
https://www.nature.com/articles/s41586-022-04827-6
https://doi.org/10.1038/s41586-022-04827-6

http://www.origins-cluster.de

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