TV-Doku: Ist die Welt Mathematik?

Gilt die Mathematik universell, ist sie also die Essenz dessen, was wir „Welt“ nennen? Oder ist auch die Mathematik wie die Umgangssprache erst vom Menschen gemacht, ein scharfes Werkzeug zwar, mit dem der Mensch die Welt durch Logik und Zahlen analytisch zu interpretieren versucht, aber dennoch ein bloßes Hilfsmittel?

Das sind die Themen der zweiten Folge von HYPERRAUM.TV über das Wesen der Mathematik. Den Antworten auf solche Fragen kann sich die Wissenschaft nur philosophisch nähern. Susanne Päch geht ihnen in der Sendung „Die Welt der Mathematik“ nochmals mit dem Mathematiker Rudolf Taschner nach und streift dabei auch die Gebiete der Chaostheorie und der Quantenphysik. Im Gegensatz zu vielen Naturwissenschaftlern glaubt Taschner nicht daran, dass die Mathematik eine universelle Größe ist, obwohl sie für immer neue Teilgebiete der Forschung entdeckt wird: von der Biologie bis zur Wirtschaftswissenschaft. Taschner ist vielmehr der Auffassung, dass wir letztlich keine wirkliche Vorstellung von dem haben können, was die Welt wirklich „ist“.

Die menschliche Sprache hat für jedes Individuum eine ästhetische Dimension. Über die lässt sich allerdings trefflich streiten. Denn: Was der Einzelne als literarisch „schön“ empfindet, hängt wesentlich mit seinem Wissen und seinen Vorlieben zusammen. Und die sind ein höchst individuelles Konstrukt aus genetischer Prägung sowie einem lebenslangen Lernen durch Erfahrungen. Sprache hat aber nicht nur eine Dimension des Schönen. Sie zeigt leider auch ein unliebsames Defizit: Sie ist irgendwie unpräzise, was zu manchen Fehlinterpretationen oder erheblichen Missverständnissen führen kann. Und manchmal offenbart sie sogar logische Fallstricke. Denn die Sprache ist – wie der Mensch eben auch – ein unvollkommenes Produkt, das sich mit der Entwicklungsgeschichte des Homo Sapiens erst herausgebildet hat.

Ohne mentale Dimension, das Denken also, ist Sprache für uns nicht vorstellbar, denn Sprache ist eine Codierung dessen, was in unserem Kopf vorgeht. Aber wie gehören beide zusammen? Anthropologen ringen bis heute um eine Antwort. Haben sich beide parallel entwickelt? War das Denken der Trigger zur Entstehung von Sprache? Oder hat die Entdeckung der Sprache das Denken gar geschärft? Unbestritten ist heute nur, dass die Veranlagung zum Sprechen in einer anderen Sprachcodierung, der biochemischen Sprache der Gene, schon im frühen Menschen verankert war und damit eine evolutionäre Geschichte hat.

Es brauchte Jahrmillionen, bis der Mensch sein abstraktes Denken so weit entwickelt hatte, dass er an die Schaffung eines synthetischen Konstruktes gehen konnte: eine Sprache 2.0, die es erlaubt, mit geringstem Platz größtmögliche Exaktheit zu formulieren. Diese abstrakte Neusprache – grundsätzlich auf der gleichen mentalen Grundlage wie die traditionelle Sprache entstanden – ist nicht nur knapp, sondern inzwischen auf ein Höchstmaß perfektioniert: Sie eliminiert gleichzeitig die von der Umgangssprache bekannten Mehrdeutigkeiten. Wir nennen diese Sprache „Mathematik“. Und sie wird im Rahmen der Forschung ständig fortentwickelt – in immer neue Dimensionen der Formulierung – und hat dabei einen Abstraktionsgrad erreicht, der sie für Menschen ohne umfangreiche Schulung nur noch bedingt zugänglich macht. Der jedoch, der sie beherrscht, kann damit alles Mögliche beschreiben: den Beginn des Universums oder die Vorgänge in einem Atom, und ebenso die Wachstumsprozesse einer Pflanze oder gar die Geschehnisse an der Börse.

Die Mathematik hat sich im Verbund mit der Informatik zu einem wirkmächtigen alternativen Sprachuniversum entwickelt, das sich immer weiter von der Umgangssprache entfernt. Für den jedoch, der sich mit ihm auszudrücken versteht, enthüllt es sogar Schönheit. Die Frage dahinter: Ist diese Sprache trotz ihrer Perfektion und Universalität dennoch lediglich ein Produkt des menschlichen Geistes – oder ist sie mehr? War die Mathematik schon vor dem Menschen da? Ist sie die universale Sprache unseres Universums? Könnte man also mit Logik und Zahlen den gesamten Kosmos entschlüsseln?

Auffällig ist jedenfalls, dass mit der Sprache der Mathematik und darauf aufbauender algorithmischer Codes immer mehr Wissenschaftsbereiche erfassbar sind: sogar Prozesse in der Biologie lassen sich inzwischen mathematisch beschreiben. Und Hirnforscher wie Robotiker setzen sie heute ein, um die Vorgänge des bewussten Denkens abzubilden oder zu simulieren. Je tiefer wir in die Mathematik eindringen, desto mehr enthüllt sie uns die Welt.

Doch der Mensch ist ein Wesen, dessen Handeln und Verhalten maßgeblich von unbewussten Gefühlen bestimmt wird. Warum und wie entstehen Freude, Angst oder Hass im Körper? Und lässt sich diese geheimnisvolle Gefühlswelt letztlich auch auf logisch fassbare Prozesse und Codes reduzieren, auf Logik und Zahlen? Oder kann man damit nur einen Teil der Wirklichkeit ergründen? Der Mathematiker Rudolf Taschner bleibt bei solchen Gedanken mehr als vorsichtig. Er meint: „Vielleicht ist die Welt nur deshalb für uns mathematisch, weil wir nur diesen Teil der Welt erkennen, nicht aber den anderen Teil, den es auch gibt. Wir wissen nicht, was die Welt ist.“ Und weder Politik noch Emotionen könnten mit der Mathematik erfasst werden. Aber: Gilt das dauerhaft? Oder drückt sich darin vielleicht doch nur unser fehlendes Wissen darüber aus, wie sich Emotionen und die Irrationalität gesellschaftlicher Vorgänge auf mathematisch formulierbare Prozesse zurückführen lassen?

Gibt es eine nicht überbrückbare Grenze zwischen Chaos und Ordnung – und der Mensch kann nur einige der gültigen Ordnungsprinzipien erkennen? Oder ist auch das Chaos nur ein Ausdruck unseres Nicht-Wissens?

Wir blicken gen Himmel – mit den Augen der Menschen im Altertum. Wir sehen dort wunderbare Ordnung im Gegensatz zum Chaos in unserer Welt– eine Dualität, die seit der Antike in der westlichen Philosophie tief verwurzelt ist. Der Blick hinaus ins Weltall schien den alten Astronomen dort oben eine ästhetische Welt in Gleichmaß und Ordnung zu offenbaren – ganz anders die vom Chaos regierte irdische Welt. Heute wissen wir, dass chaotische Prozesse im Weltall genauso beheimatet sind wie auf der Erde. Doch auch das Chaos hat für den Mathematiker längst seinen Schrecken verloren. Er spricht von der Wahrscheinlichkeitstheorie oder von Stochastik – und mit ihr kann er chaotische Prozesse formulieren und damit heute das Wetter vorhersagen und sogar das Glückspiel erklären. Der Ursprung dieser Forschungsdisziplin reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Doch die Chaostheorie kann uns heute chaotische Prozesse zwar erklären, doch ein Rezept, das Chaos zu beherrschen, ist das nicht. Und das, obwohl sich diese Interpretation von Zufall in einem gänzlich geschlossenen System bewegt. Der Zufall ist in diesem Fall nur deshalb „zufällig“, weil wir die grundlegenden komplexen physikalischen Vorgänge des Würfelspiels in unseren Modellen nicht abbilden können.

Doch seit dem Aufkommen der Quantenphysik gibt es Forscher, die überzeugt sind, dass es auch den „echten“ Zufall geben könnte. Eine Analogie des echten Zufalls beim Würfelspiel wäre: wenn plötzlich eine Zahl 7 gewürfelt würde. Denn die ist in diesem System gar nicht vorgesehen. Für Physiker ist das ein hochspannendes Denkgebäude. Ob es den echten Zufall allerdings gibt oder auch nicht – niemand kann es beweisen. Mathematiker sind an solchen Gedanken sowieso gänzlich desinteressiert.  „Den kann die Mathematik nicht berechnen, da sind wir ganz draußen vor. Bei dieser Art von Zufall sind die Mathematiker hilflos“, meint der Mathematiker gänzlich desinteressiert.

Zuletzt stellt sich die Frage nach der Zukunft der mathematischen Disziplin. In der Naturwissenschaft erleben wir den Trend zu immer komplexeren Theorien, zu immer abstrakteren Modellen, ein Trend, der ohne den Einsatz von Computern nicht mehr vorstellbar ist. Große Forschungsteams brüten über Problemen, die in Einzelteile zerlegt, nur noch kollektiv untersucht werden können. In der experimentellen Grundlagenforschung ist es ein Zeichen der Zeit, dass der Einzelne den Gesamtkontext seiner Forschung immer weniger überblickt. Gleichzeitig steigt die Abhängigkeit von Computern und KI-Programmen, auch bei der Analyse und Auswertung der erhobenen Daten. So gelang es im naturwissenschaftlichen Forschungsbetrieb, im Verbund mit der Mathematik zunehmend Erkenntnisse zu formalisieren, die der Mensch aber immer weniger nachvollziehen kann.  Ein Phänomen, das auch in der Geisteswissenschaft der Mathematik zu erkennen ist? Taschner ist von der alten Schule: „Als Mathematiker will ich verstehen, begreifen“, sagt Taschner. Aber auch in der Mathematik käme der Computer immer weiter in die Entwicklung hinein. Heute gäbe es bereits Beweise, die nur dank des Einsatzes von Computern geführt werden können, verstehen muss sie der Wissenschaftler nicht mehr. „Doch damit geht ein Teil der Mathematik sicher zu Ende.“

Ansprechpartner:
Dr. Susanne Päch
Chefredaktion HYPERRAUM.TV
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