1 Milliarde Jahre Abstinenz: Chloroplasten dürfen endlich auf Sex hoffen!
Forschende des Max-Planck-Instituts für Molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam haben in fast 4 Millionen Tabakpflanzen die Vererbung von Chloroplasten unter verschiedenen Umweltbedingungen untersucht.
Entgegen der bisherigen Ansicht, Chloroplasten würden nur von der Mutterpflanze weitergegeben, können bei Kälte auch väterliche Chloroplasten vererbt werden. Die Chloroplasten der Eltern können sich also in den Nachkommen treffen und genetisches Material austauschen. Diese Erkenntnis erlaubt es, Eigenschaften aus dem Erbgut der Chloroplasten gezielt in der Züchtung zu nutzen, und eröffnet zudem neue Perspektiven für die Evolutionsforschung. Die Studie wurde in Nature Plants veröffentlicht.
Bienen und Blümchen sind der klassische Einstieg in ein Thema, über das in unserer Gesellschaft viel zu selten gesprochen wird: Sex bei Pflanzen! Bei der pflanzlichen Vermehrung treffen männliche Geschlechtszellen, also der Pollen, auf die weibliche Eizelle und verschmelzen mit ihr. Dabei wird das väterliche und mütterliche Erbgut aus den Zellkernen im Samen neu kombiniert. Das ist wichtig, da auf diese Weise schadhafte Mutationen, die sich im Laufe der Generationen im Erbgut einer Elternlinie ansammeln, ausgeglichen werden können.
Chloroplasten haben eigenes Erbgut
Neben dem Erbgut im Zellkern besitzen Mitochondrien und Chloroplasten gleichfalls Erbgut. Mitochondrien sind die Verbrennungskraftwerke der Zellen. Mit ihnen verbrennen Tier- und Pflanzenzellen Kohlenhydrate, um die freiwerdende Energie für ihren Stoffwechsel nutzen zu können. Pflanzen besitzen außerdem auch Chloroplasten, die den grünen Farbstoff Chlorophyll enthalten und die Solarkraftwerke der Pflanzen darstellen. Sie nutzen Sonnenenergie, um in der Photosynthese Kohlenhydrate herzustellen.
Mitochondrien und Chloroplasten haben eigenes Erbgut. Sie stammen ursprünglich von Bakterien ab, die vor mehr als einer Milliarde Jahren von Vorläufern der heutigen Tier- und Pflanzenzellen aufgenommen wurden, und mit denen sie seitdem eine Lebensgemeinschaft bilden. Inzwischen sind diese früheren Untermieter unverzichtbare Bestandteile unserer Zellen geworden.
Schon lange ist bekannt, dass Mitochondrien und Chloroplasten, im Gegensatz zum Erbgut aus den Zellkernen, nicht gleichmäßig von Vater und Mutter vererbt werden. Beide werden fast ausschließlich von der Mutter weitergegeben. Bei Pflanzen kommen sie entweder gar nicht erst in das Pollenkorn hinein, oder ihr Erbgut wird im Pollen abgebaut. Wenn Mitochondrien und Chloroplasten von Mutter und Vater sich nie treffen, können sie auch keinen Sex haben, also kein Erbgut austauschen. Daher müssten sich eigentlich schadhafte Genveränderungen über die Generationen hinweg anreichern und irgendwann zum Kollaps führen.
Mit neuer Methode fast 4 Millionen Pflanzen ausgewertet
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Molekulare Pflanzenphysiologie haben nun herausgefunden, dass Chloroplasten in Tabakpflanzen unter bestimmten Umweltbedingungen, entgegen der gängigen Meinung, auch regelmäßig von der Vaterpflanze weitergegeben werden können. Dazu stellten die Forscher zunächst Vaterpflanzen her, deren Chloroplasten resistent gegen ein Antibiotikum sind. Anschließend wurden diese Pflanzen während der Pollenreife verschiedenen Umweltbedingungen wie Hitze, Kälte, Trockenheit und Starklicht ausgesetzt. Mit dem Pollen dieser Pflanzen wurden unveränderte Mutterpflanzen bestäubt. Die aus dieser Kreuzung hervorgegangenen Samen wurden auf einem Nährmedium mit dem entsprechenden Antibiotikum angezogen. Da nur die väterlichen Chloroplasten auf diesem Medium überleben, erscheinen Zellen, die Chloroplasten von der Vaterpflanze enthalten grün, während die Pflanzen mit nur mütterlich vererbten Chloroplasten farblos sind, da diese Chloroplasten aufgrund der fehlenden Antibiotikaresistenz ausbleichen.
Da die väterliche Vererbung von Chloroplasten extrem selten ist, mussten die Wissenschaftler fast 4 Millionen Pflänzchen anschauen, um zu zeigen, dass der Anteil der väterlich vererbten Chloroplasten bei Kältebehandlung 150 mal höher ist als bei normaler Temperatur. „Es ist nicht leicht motiviert zu bleiben, wenn man tausende Pflänzchen anschaut, immer auf der Suche nach dem einen grünen Fleck. Entsprechend begeistert waren wir, als sich bei den Kälteexperimenten tatsächlich ein Effekt abzeichnete“, berichtet Stephanie Ruf, eine Autorin der Studie.
Vererbung von Chloroplasten kann von Menschen gesteuert werden
Nach diesem ersten Erfolg wollten die Forscher es genauer wissen: „Wir wissen, dass Kälte die Arbeit von Enzymen im Stoffwechsel der Pflanzen verlangsamt. Daher hatten wir den Verdacht, dass ein Enzym daran beteiligt sein könnte, die väterliche Vererbung von Chloroplasten zu blockieren.“, erläutert Enrique Gonzalez-Duran, der auch maßgeblich an der Studie beteiligt war. Die Wissenschaftler stellten daraufhin gezielt Pflanzen her, die ein defektes Enzym in sich tragen, welches normalerweise das Erbgut der Chloroplasten während der Pollenreife zerstört. Pflanzen mit defektem Enzym zeigten ebenfalls eine massiv erhöhte väterliche Vererbung von Chloroplasten. In Kombination führen Enzymdefekt und Kälte bei der Pollenentwicklung zu einer väterlichen Vererbungsrate von 2-3%. „Das mag erst einmal wenig klingen, ist aber gigantisch im Vergleich zu einer 1:100.000 Chance, dass so etwas unter Normalbedingungen stattfindet. Es wird nun spannend zu untersuchen, ob mütterlich und väterlich vererbte Chloroplasten tatsächlich Erbgut untereinander austauschen“, erläutert Kin Pan Chung ein weiterer Autor der Studie.
Die Erkenntnis, dass die väterliche Vererbung von Chloroplasten durch äußere Einflüsse und Veränderung einzelner Enzyme in der Pflanze steuerbar ist, eröffnet ganz neue Perspektiven für die Pflanzenzüchtung. „Da man bisher dachte, Mitochondrien und Chloroplasten würden immer nur zusammen und nur von der Mutter vererbt, gab es keine Möglichkeit, die in ihrem Erbgut verschlüsselten Eigenschaften getrennt voneinander weiterzugeben. Die Möglichkeit, durch eine simple Kältebehandlung auch die Chloroplasten der väterlichen Seite zu vererben, könnte die Tür zu ganz neuen Züchtungsprogrammen öffnen“, erklärt Ralph Bock, der Leiter der Forschungsgruppe. Warum Mitochondrien und Chloroplasten größtenteils durch die Mutter vererbt werden, ist immer noch unklar. Dass diese Art der Vererbung flexibel auf Umweltbedingungen reagieren kann, dürfte auch Evolutionsbiologen veranlassen, einige gängige Theorien und Modelle neu zu überdenken. „Es zeigt auch, wie wichtig es ist, Umweltbedingungen in der genetischen Forschung mit zu berücksichtigen. Chloroplasten haben uns Jahrzehntelang glauben lassen, sie lebten enthaltsam, jetzt können wir da nicht mehr so sicher sein“, so Bock.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Ralph Bock
Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie
rbock@mpimp-golm.mpg.de
Originalpublikation:
Kin Pan Chung, Enrique Gonzalez-Duran, Stephanie Ruf, Pierre Endries & Ralph Bock
Control of plastid inheritance by environmental and genetic factors
Nature Plants, 16.01.2023, DOI: 10.1038/s41477-022-01323-7
Weitere Informationen:
https://www.nature.com/articles/s41477-022-01323-7 link zur Originalpublikation
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