Puzzle um ein Protein
Ulmer Forscherteam liefert wichtige Erkenntnisse zum seltenen PURA-Syndrom.
Der Ulmer Biochemiker und Strukturbiologe Professor Dierk Niessing erforscht, was beim PURA-Syndrom, einer genetisch bedingten neuronalen Entwicklungsstörung, in den Zellen abläuft. Mit einer neuen Studie ist er nun der Lösung des Rätsels um ein wichtiges Stück nähergekommen. So zeigte sich in der Untersuchung, dass nicht nur die Immunantworten und die „Müllabfuhr“ der Zellen betroffen waren, sondern auch die Gen-Regulation auf RNA-Ebene. Diese neuen Erkenntnisse könnten Ansätze zu künftigen Therapiestudien für die bislang unheilbare Krankheit bieten.
Was beim PURA-Syndrom, einer genetisch bedingten neuronalen Entwicklungsstörung, in den Zellen abläuft, erforscht der Ulmer Biochemiker und Strukturbiologe Professor Dierk Niessing. Mit einer Studie gemeinsam mit der Universität Frankfurt und dem Helmholtz Zentrum München ist er der Lösung des Rätsels nun um ein wichtiges Stück nähergekommen. So zeigte sich in der Untersuchung, dass nicht nur die Immunantworten und die „Müllabfuhr“ der Zellen betroffen waren, sondern auch die Gen-Regulation auf RNA-Ebene. Niessings Erkenntnisse um molekulare und zelluläre Netzwerke könnten Ansätze zu künftigen Therapiestudien für die bislang unheilbare Krankheit bieten. Diese wurden nun in der Fachzeitschrift Nucleic Acids Research veröffentlicht.
Das PURA-Syndrom ist eine seltene neuronale Erkrankung mit schwerwiegenden Entwicklungsstörungen ab der Geburt. Neben Lernschwäche und geistiger Entwicklungsverzögerung können die Kinder unter Anfällen, verminderter Muskelspannung, Problemen bei der Nahrungsaufnahme und Atemproblemen leiden. Dierk Niessing, Leiter des Instituts für Pharmazeutische Biotechnologie der Universität Ulm, erforscht seit Jahren die Mechanismen dieser Krankheit, von der in der Bundesrepublik bisher nur etwas über 20 Patienten genetisch identifiziert wurden. Sein Labor, das Struktur- und Zellbiologie mit Biophysik und Biochemie kombiniert, stellt die deutschlandweit führende wissenschaftliche Institution zum PURA-Syndrom dar.
Auf Zellebene liegt bei dieser Erkrankung eine Mutation des PURA-Gens vor, das mit den anderen Genen als Bauanleitung des Körpers im Zellkern sitzt. In einer komplizierten molekularen Übersetzung, in der die Ribonukleinsaeure RNA eine wichtige Rolle spielt, werden diese Bauanleitungen zur Herstellung entsprechender Proteine eingesetzt. Ändert sich bei einer Mutation die charakteristische Abfolge der Gen-Bausteine, ändern sich auch die Bauanleitungen für das Protein bezüglich Aufbau und Anordnung. Da die Zelle das fehlerhafte PURA-Protein entweder gar nicht mehr herstellt oder dieses erkennt und zerstört, gehen mit dem Syndrom verringerte Spiegel desselben einher. „Obwohl wir bereits ein recht klares Verständnis von den strukturellen und molekularen Eigenschaften des PURA-Proteins hatten“, so Niessing, „fehlte doch ein Verständnis, welche Zellfunktionen durch PURA gesteuert werden.“ Ziel der Studie war es deshalb, Zellfunktionen und molekulare Netzwerke, die bei den Patienten fehlreguliert sein könnten, in einer Art hochkompliziertem Puzzle zu identifizieren. Hierfür arbeitete Niessing eng mit Dr. Kathi Zarnack von der Goethe-Universität Frankfurt zusammen.
Im Labor führte Niessings Team großangelegte Experimente durch. Dabei nutzte es mehrere sogenannter Hochdurchsatz-Methoden, um zu verstehen, welche Gene von PURA gesteuert und möglicherweise in Patienten mit PURA-Syndrom falsch reguliert werden. So wurde zum einen mittels Hochdurchsatz-Sequenzierung für alle Bauanleitungen in der Zelle überprüft, wie oft diese zur Herstellung von Proteinen in sogenannte Boten-RNAs kopiert wurden. Zum anderen wurde die sogenannte Massenspektrometrie verwendet, um die Art und Anzahl fast aller in der Zelle hergestellten Proteine zu bestimmen. Da die Übersetzung mancher Boten-RNAs in Proteine durch PURA reguliert wird, wurde zusätzlich mittels sogenannter iCLIP-Technik überprüft, welche dieser vielen Boten-RNAs durch PURA gebunden werden. Hierfür bestrahlte das Team Zellen mit UV-Licht, wodurch aneinander gebundene Proteine und Boten-RNAs eine sehr stabile Verbindung eingehen. Die wichtigsten Ergebnisse wurden anschließend mittels verschiedener biochemischer Methoden und sogenannter Fluoreszenz-Mikroskopie bestätigt.
Die in den Experimenten gewonnene riesige Datenmenge wurde von der Arbeitsgruppe „Computational RNA Biology“ der Goethe-Universität Frankfurt analysiert und interpretiert. „In digitalen sogenannten Multi-Omics-Analysen konnte unsere Gruppe die Ergebnisse der unterschiedlichen Experimente und Molekülklassen miteinander kombinieren“, so die Leiterin, Dr. Kathi Zarnack. „Nur mit einer solch aufwändigen Computeranalyse sind die Daten in ihrer Fülle überhaupt interpretierbar und erlauben ein Verständnis der zellulären Aufgaben des PURA-Proteins.“
In der Fachzeitschrift Nucleic Acids Research konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun darlegen, dass PURA-Proteine überwiegend im Zytoplasma der Zelle vorkommen, also dem Teil, der den Kern mit dem Erbgut umgibt. Zudem deuten die Forschungsergebnisse auf eine Rolle des PURA-Proteins bei wichtigen Zellmechanismen hin. Dazu zählen die Immunantworten der Zellen, die Funktion der Mitochondrien, also der Kraftwerke der Zellen, oder die Autophagie, das zelluläre Recycling. Insbesondere die Aktivität und Netzwerke der sogenannten „Processing bodies“, die die RNA regulieren, scheinen von reduzierten PURA-Spiegeln stark und vielfältig beeinflusst zu sein.
„Unsere Hoffnung ist, dass unsere beiden Labore mit der Lösung des molekularen Puzzles einen ersten Schritt in Richtung zukünftiger Therapie-Ansätze gemacht haben“, so Niessing. Bis zu wirksamen Therapien sei es jedoch noch ein langer Weg. In weiteren Studien müsse zunächst geklärt werden, welche dieser Abnormalitäten die schwerwiegenden Symptome der Patienten tatsächlich verursachen.
Niessing verweist zudem auf Ähnlichkeiten zu anderen neuronalen Entwicklungsstörungen, wie dem Angelman-, Pitt-Hopkins- oder Rett-Syndrom. „Obwohl deren molekulare Ursachen sich von dem des PURA-Syndroms unterscheiden, könnten sich aus den ähnlichen Symptomen durchaus Gemeinsamkeiten ergeben.“ Zudem gebe es in den letzten Jahren zunehmend Berichte über Defekte in anderen RNA-Bindeproteinen, welche ebenfalls neuronale Entwicklungsstörungen zur Folge hätten. „Untersuchungen am PURA-Syndrom werden für diese neuen Erkrankungen höchstwahrscheinlich wegweisend sein.“
Neben der wissenschaftlichen Ergründung des PURA-Syndroms unterstützen die Teams um Niessing und Zarnack Patientenfamilien weltweit durch Vorträge und Beratung. Auch helfen sie Familien in Deutschland beim Aufbau einer nationalen Patientenvereinigung. Mit seinem Partnerlabor am Helmholtz Zentrum München baut Niessing zudem eine „Biobank“ auf. Dieser können Patientenfamilien biologische Proben für die weitere Erforschung der Krankheit zur Verfügung stellen.
Unterstützt wurde die Arbeit unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Care-for-Rare Stiftung, der PURA-Syndrome Foundation und durch private Spenden.
Text: Anja Burkel
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Dierk Niessing, Tel.: 0731 /50-23160, E-Mail: dierk.niessing@uni-ulm.de
Originalpublikation:
Literaturhinweis:
Molitor, L.*, Klostermann, M.*, Bacher, S., Merl-Pham, J., Spranger, N., Burczyk, S., Ketteler, C., Rusha, E., Tews, D., Pertek, A., Proske, M., Busch, A., Reschke, S., Feederle, R., Hauck, S., Blum, H., Drukker, M., Fischer-Posovszky, P., König, J., Zarnack, K.#, Niessing, D. # (2022).
Depletion of the RNA-binding protein PURA triggers changes in posttranscriptional gene regulation and loss of P-bodies. Nucleic Acids Research.
https://doi.org/10.1093/nar/gkac1237
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