Nur langlebige RNAs erreichen das Ziel
In Nervenzellen legen RNA-Moleküle weite Strecken zurück. Damit sie an ihrem Bestimmungsort ankommen, brauchen sie vor allem eins: ein langes Leben. Darüber berichtet das Team um Marina Chekulaeva am MDC-BIMSB in der Fachzeitschrift „Molecular Cell“.
Die Strecke, die RNA in Nervenzellen zurücklegen, ist für die kleinen Moleküle in etwa vergleichbar mit einer Reise eines Menschen um die Erde. Die längsten Nervenzellen im menschlichen Körper sitzen im unteren Rücken, von hier aus wandert die RNA in weitverzweigte Ausläufer, die bis hinunter in die Zehen reichen können. So steuern Nervenzellen über große Distanzen hinweg unsere Bein- und Fußmuskulatur. Funktioniert das RNA-Transportsystem nicht mehr optimal, gehen wichtige Informationen zur Proteinherstellung verloren. Die Folgen: Nervenzellen sterben ab und die Steuerung der Muskulatur ist nicht mehr möglich, wie etwa bei der neurodegenerativen Erkrankung Amyotrophe Lateralsklerose.
Wissenschaftler*innen gingen zuvor lange davon aus, dass bestimmte Sequenzen innerhalb der RNA für den Transport eine große Rolle spielen. In einer neuen Studie der unabhängigen Arbeitsgruppe „Lokaler RNA-Stoffwechsel in Neuronen und Neurodegeneration“ am Berlin Institute for Medical Systems Biology (MDC-BIMSB) des Max Delbrück Centers haben Forschende nun herausgefunden, dass vielmehr die Haltbarkeit der RNA entscheidend ist, damit sie ihren Bestimmungsort erreicht. Jetzt veröffentlicht das Team um Professorin Marina Chekulaeva seine Ergebnisse im Fachjournal „Molecular Cell“.
Viele RNAs brauchen keinen Adresscode
Um den RNA-Transport zu untersuchen, musste die Forschenden zunächst die Zellkörper von den Ausläufern trennen. Dafür nutzten sie eine einfache Methode, die die Gruppe im Jahr 2017 entwickelt hat und kombinierten sie mit einer Technik zur Bestimmung der Lebenszeit von RNA-Molekülen. „So haben wir festgestellt, dass die durchschnittliche Lebensdauer der RNA in den Ausläufern deutlich länger ist als im Zellkörper“, erklärt Dr. Inga Lödige, Biochemikerin und eine der Co-Autorinnen der Studie. Diesen Aspekt hatte zuvor noch niemand untersucht.
Rückblickend erscheint diese Erkenntnis dem Team fast trivial: Je langlebiger die RNA, desto weiter kann sie zu entfernten Orten in der Zelle reisen. Doch für die Forschenden kam diese Beobachtung einem Paradigmenwechsel gleich. „Bislang sind wir davon ausgegangen, dass alle RNA-Moleküle, einen Adresscode benötigen, um in entfernte Bereiche einer Zelle zu gelangen“, sagt Chekulaeva. Seit der Entdeckung des ersten „RNA-Zipcodes“ vor fast 30 Jahren, fahnden Wissenschaftler*innen nach weiteren „Zipcodes“, doch nur wenige konnten bislang identifiziert werden. „Unsere Arbeit liefert hierfür eine Erklärung: Ein Großteil der RNAs, die transportiert werden, benötigt gar keinen Adresscode. Entscheidend für ihren erfolgreichen Transport ist allein ihre lange Haltbarkeit“.
„Typischerweise haben RNAs eine kurze Lebensdauer von nur wenigen Stunden“ erklärt Artem Baranovskii, ebenfalls Co-Autor der Studie. „Bestimmte Sequenzen in der RNA, die wie eingebaute Zeitschaltuhren funktionieren, sorgen dafür, dass RNAs schnell abgebaut werden. Diese Elemente fehlen bei RNAs, die sich in Ausläufern von Nervenzellen befinden. Interessanterweise handele es sich dabei um jene RNAs, die für grundlegende Zellfunktionen notwendig seien, erklärt der Bioinformatiker. Indem sie ihre Lebensdauer durch genetische Tricks veränderten, konnten die Forschenden regulieren, ob die RNA entfernte Ausläufer erreicht oder nicht „Eine lange Halbwertszeit gewährleistet, dass sie in entfernten Zellausläufern jederzeit verfügbar ist.“
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass wir ein neues Modell brauchen, das den RNA-Transport in der Nervenzelle erklärt“, ergänzt Chekulaeva. „Es scheint, dass das Transportsystem der Zelle nicht so sehr von spezifischen Signalen abhängt, sondern eher von allgemeinen Eigenschaften der RNA, die sicherstellen, dass wichtige Botschaften an der richtigen Stelle in der Zelle ankommen“.
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Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.
Originalpublikation:
Inga Lödige et al. (2023): “mRNA stability and m6A are major determinants of subcellular mRNA localization in neurons” in: Molecular Cell, DOI: 10.1016/j.molcel.2023.06.021
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1097276523004689?via%3Dihub
Weitere Informationen:
https://www.mdc-berlin.de/de/news/news/nur-langlebige-rnas-erreichen-das-ziel
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