Wie sich die Organe männlicher und weiblicher Säugetiere unterscheiden
Wissenschaftler aus Heidelberg und London entschlüsseln genetische Programme, die der Entwicklung geschlechtsspezifischer Merkmale von Säugetierorganen zugrunde liegen.
Die Ausbildung geschlechtsspezifischer Merkmale kommt bei Säugetieren häufig vor. Diese Merkmale entstehen durch die Aktivierung entsprechender genetischer Programme, die wissenschaftlich bisher weitgehend unbeschrieben sind. Ein internationales Forschungsteam des Zentrums für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg und des Francis Crick Institute in London hat nun erstmals die Programme entschlüsselt, die die geschlechtsspezifische Entwicklung wichtiger Organe bei ausgewählten Säugetieren – Mensch, Maus, Ratte, Kaninchen und Opossum – steuern. Durch den Vergleich dieser Programme konnten die Wissenschaftler auch die Evolution geschlechtsspezifischer Organmerkmale nachzeichnen.
Der sogenannte Sexualdimorphismus bezeichnet die Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale und bezieht sich in der Biologie auf Unterschiede im Erscheinungsbild geschlechtsreifer männlicher und weiblicher Individuen derselben Art, die nicht auf die Geschlechtsorgane bezogen sind. Dazu gehören klar erkennbare Unterschiede in der Größe und Färbung des Körpers oder die Ausbildung unterschiedlicher Organe, etwa das Geweih bei männlichen Hirschen. Hinzu kommen weniger offensichtliche Unterschiede in der Größe, Funktion und zellulären Zusammensetzung innerer Organe. Diese Unterschiede können beim Menschen zum Beispiel bei der Leber zu einer geschlechtsspezifischen Verarbeitung oder Wirksamkeit von Medikamenten führen, so Prof. Dr. Henrik Kaessmann vom Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg (ZMBH), der die Arbeiten zusammen mit Dr. Margarida Cardoso-Moreira vom Francis Crick Institute in London geleitet hat.
Die Entwicklung von Säugetierorganen vor und nach der Geburt wird durch das fein abgestimmte und komplexe Zusammenspiel der Aktivität sehr vieler verschiedener Gene – auch Genexpressionsprogramme genannt – kontrolliert. „Diese entwicklungsabhängige Genexpression ist insgesamt schon recht gut verstanden, unter anderem durch die Arbeiten in unserem Labor. Weitgehend unbekannt war bislang jedoch, wie sich diese Programme zwischen weiblichen und männlichen Individuen unterscheiden und welche Auswirkungen diese Unterschiede auf die Funktion und zelluläre Zusammensetzung von Organen erwachsener Säugetiere haben“, erläutert Leticia Rodríguez-Montes. Sie ist Doktorandin in Prof. Kaessmanns Forschungsgruppe „Evolution des Säugetiergenoms“.
Den Wissenschaftlern in Heidelberg und London ist es nun gelungen, auf der Organ- und Zellebene systematisch Gene zu kartieren, die während der Entwicklung vorrangig in nur einem der beiden Geschlechter aktiv sind und so zur Ausbildung unterschiedlicher Organmerkmale bei weiblichen und männlichen Individuen führen. Auf der Grundlage von Sequenzierdaten entdeckten die Forscherinnen und Forscher mithilfe von bioinformatischen Analysemethoden ein überraschendes Muster, das auf alle von ihnen untersuchten Säugetiere zutrifft: „Fast alle Unterschiede bei der Genexpression entstehen schlagartig erst mit der Geschlechtsreife. Das heißt, dass die genetischen Programme, die für die Ausbildung geschlechtsspezifischer Organeigenschaften verantwortlich sind, fast ausschließlich spät in der Entwicklung der Organe angeschaltet werden, ausgelöst von weiblichen oder von männlichen Hormonen“, betont Prof. Kaessmann.
Um auch die Evolution dieser genregulatorischen Programme nachvollziehen zu können, verglichen die Wissenschaftler ihre Ergebnisse für die verschiedenen Säugetiere im Detail. „Bei den meisten von uns untersuchten Arten weisen Leber und Niere zwischen den Geschlechtern zahlreiche Genexpressionsunterschiede auf, die wiederum zu ausgeprägten geschlechtsspezifischen Unterschieden hinsichtlich der Funktionalität dieser Organe führen“, erklärt Dr. Cardoso-Moreira. Diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern, so fanden die Forscherinnen und Forscher weiter heraus, treten säugetierübergreifend zwar bei den gleichen Organen und sogar bei den gleichen Zelltypen in diesen Organen auf; sie kommen jedoch größtenteils durch die Aktivität unterschiedlicher Gene zustande.
Die aktuellen Erkenntnisse veranschaulichen die rasante Evolution geschlechtsspezifischer Merkmale, die nach den Worten von Leticia Rodríguez-Montes vermutlich auf unterschiedliche Herausforderungen im Laufe der Artbildung zurückzuführen sind. „Eine Ausnahme bilden einige wenige Gene, die auf den X- und Y-Geschlechtschromosomen zu finden sind und vermutlich als grundlegende genetische Auslöser für die Entwicklung geschlechtsspezifischer Eigenschaften bei allen Säugetieren dienen“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht. Der Europäische Forschungsrat hat die Arbeiten gefördert. Die Forschungsdaten sind in einer frei zugänglichen Datenbank abrufbar.
Kontakt:
Universität Heidelberg
Kommunikation und Marketing
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Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Henrik Kaessmann
Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg
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h.kaessmann@zmbh.uni-heidelberg.de
Originalpublikation:
L. Rodríguez-Montes, S. Ovchinnikova, X. Yuan, T. Studer, I. Sarropoulos, S. Anders, H. Kaessmann, M. Cardoso-Moreira: Sex-biased gene expression across mammalian organ development and evolution. Science (published online 2 November 2023), https://doi.org/10.1126/science.adf1046
Weitere Informationen:
http://www.zmbh.uni-heidelberg.de/Kaessmann – Forschungsgruppe Henrik Kaessmann
https://apps.kaessmannlab.org/sexbiasapp – Forschungsdaten
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