Krebs: Neue Therapieansätze durch genetische Passagiere

Schnitt durch das Gewebe eines Neuroblastoms, das das Krebsgen MYCN sowie das Passagier-Gen DDX1 vervielfältigt hat. Durch die Behandlung mit Rapamycin sind einige Tumorzellen abgestorben (rot). Blau: Zellkerne.
© Charité | Anton Henssen

Häufig entsteht ein Tumor dadurch, dass sich Krebsgene vervielfältigen. Dabei werden en passant oft zusätzliche Gene mitvermehrt. Anders als bisher gedacht, sind diese nicht nur stille Passagiere. Wie eine Studie von Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max Delbrück Center jetzt belegt, können Passagier-Gene im Tumor bisher unbekannte Schwachstellen erzeugen – was völlig neue Therapieansätze ermöglicht. Veröffentlicht sind die Ergebnisse im Fachmagazin Cancer Discovery*.

Vor allem Veränderungen im Erbgut gelten als Ursache für eine Krebserkrankung. Häufig handelt es sich dabei um sogenannte Amplifikationen: Vervielfältigungen von Genen, die die Entstehung von Krebs begünstigen. Die Gene werden dabei übermäßig häufig kopiert und liegen anschließend entweder im Erbgut oder als separate DNA-Ringe in großer Zahl in der Zelle vor.

„Genau genommen vervielfältigt die Zelle allerdings nicht nur die Krebsgene, sondern kopiert auch die davor- und dahinterliegenden Abschnitte der DNA mit“, erklärt Prof. Anton Henssen, Kinderonkologe an der Charité und Wissenschaftler am Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung der Charité und des Max Delbrück Center. Zusammen mit Dr. Jan Rafael Dörr, ebenfalls Charité-Kinderonkologe und Forscher am ECRC, hat er die Studie geleitet.

Gar nicht so stille Passagiere

„In diesen mitkopierten Abschnitten liegen oft weitere Gene, die bisher als unbedeutend für die Krebsentstehung galten und deshalb schlicht ‚Passagier-Gene‘ genannt wurden“, erklärt Anton Henssen. „Unsere Arbeit zeigt nun, dass diese genetischen Trittbrettfahrer mehr als nur stille Passagiere sind: Sie bringen grundlegende Vorgänge in der Zelle durcheinander. Weil die Tumorzelle diese Störung wieder ausgleichen muss, wird sie von Prozessen abhängig, die eigentlich mit dem Tumorwachstum gar nichts zu tun haben. Damit entsteht eine Achilles-Ferse an einer völlig unerwarteten Stelle, von der wir bisher nichts wussten. Wir können den Krebs also von einer neuen Flanke angreifen, wenn wir bei der Behandlung auf die Passagier-Gene abzielen.“

Am Beispiel des Neuroblastoms zeigten die Wissenschafter:innen, wie sich diese bisher unbekannten Abhängigkeiten potenziell therapeutisch nutzen lassen. Das Neuroblastom ist eine Krebserkrankung, die vor allem sehr junge Kinder betrifft und als besonders bösartig gilt. Im Tiermodell zeigte sich, dass Neuroblastome viel anfälliger für das Krebsmedikament Rapamycin sind, wenn sie nicht nur das Krebsgen MYCN, sondern auch das Passagier-Gen DDX1 in hoher Zahl aufweisen. „Das liegt daran, dass das Passagier-Gen den Stoffwechsel der Tumorzelle stört“, erklärt Jan Dörr. „Die Zelle muss die Störung kompensieren und Rapamycin hindert sie daran. Das führt schließlich zum Tod der Tumorzelle.“

Das Neuroblastom zusätzlich zu weiteren Wirkstoffen auch mit Rapamycin anzugreifen, könnte also die Behandlung insbesondere von jenen Patient:innen verbessern, deren Tumor sowohl das Krebs- als auch das Passagier-Gen vervielfältigt hat. Ob das tatsächlich der Fall ist, wollen die Forschenden nun in klinischen Studien prüfen.

Effekt zeigt sich in verschiedenen Tumorarten

Passagier-Gene in den Fokus zu nehmen, kann aber vermutlich nicht nur beim Neuroblastom helfen. Darauf deuten Millionen von Daten zur wechselseitigen Abhängigkeit von Genen in 26 verschiedenen Tumorarten hin, die öffentlich zugänglich sind und die das Team im Rahmen seiner Studie neu durchforstete. In zehn Fällen konnten die Forschenden nachweisen, dass durch Passagier-Gene in den Tumoren neue Abhängigkeiten entstanden sind.

„Wir gehen davon aus, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist und wir bei besserer Datenlage noch mehr dieser Fälle entdecken würden“, sagt Anton Henssen. „Dass Passagier-Gene in Tumoren eine Schwachstelle erzeugen, ist offenbar ein recht weit verbreitetes Phänomen. Wir halten den Ansatz, Tumoren auch an ihren Passagier-Genen zu attackieren, deshalb auch bei anderen Krebserkrankungen für vielversprechend.“

Über die Studie
Die Studie wurde vom European Research Council (ERC) gefördert und hat zusätzliche Mittel von der Förderinitiative „Cancer Grand Challenges“ erhalten, die von der Cancer Research UK und dem National Cancer Institute der National Institutes of Health in den USA getragen wird. Sie wurde gleichberechtigt von Prof. Anton Henssen und Dr. Jan Rafael Dörr geleitet. Beide sind ärztlich an der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité tätig. Am ECRC leitet Jan Dörr die Nachwuchsgruppe „Tumorheterogenität und Therapieresistenz in pädiatrischen Tumoren“, Anton Henssen die Arbeitsgruppe „Genomische Instabilität in pädiatrischen Tumoren“. Anton Henssen wird mit einer Mildred-Scheel-Professur durch die Deutsche Krebshilfe gefördert und ist wissenschaftliches Mitglied des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK) am Standort Berlin.

*Bei Y et al. Passenger gene co-amplifications create collateral therapeutic vulnerabilities in cancer. Cancer Discov 2024 Jan 10. doi: 10.1158/2159-8290.CD-23-1189

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Anton Henssen
Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie
Experimental and Clinical Research Center (ECRC)
Charité – Universitätsmedizin Berlin
T: +49 30 450 566 132
E-Mail: anton.henssen@charite.de

Originalpublikation:

https://doi.org/10.1158/2159-8290.CD-23-1189

Weitere Informationen:

https://kinderonkologie.charite.de/ Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité
https://www.mdc-berlin.de/de/henssen AG Henssen am ECRC
https://www.mdc-berlin.de/de/doerr AG Dörr am ECRC

http://www.charite.de

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