Gene nutzen oder verlieren: Wie Seegräser das Meer erobern

Neptungras (Posidonia oceanica) im Mittelmeer.
Foto: Gabriele Procaccini, Stazione Zoologica Anton Dohrn Neapel

Genanalysen, die die Fähigkeit der marinen Blütenpflanzen aufzeigen, unter unterschiedlichsten Umweltbedingungen zu existieren, liefern Hinweise für den Erhalt und die nachhaltige Nutzung wichtiger Ökosysteme.

Seegräser bilden die Grundlage für eines der artenreichsten und zugleich empfindlichsten marinen Küstenökosysteme der Welt. Sie entwickelten sich vor etwa 100 Millionen Jahren in drei unabhängigen Linien aus ihren im Süßwasser vorkommenden Vorfahren und sind die einzigen vollständig unter Wasser lebenden marinen Blütenpflanzen. Der Wechsel in eine so radikal andere Umgebung ist ein seltenes evolutionäres Ereignis – und er dürfte nicht einfach gewesen sein. Wie gelang den Seegräsern dieser Schritt? Neue hochqualitative Genome für drei Arten liefern Hinweise, die für den Erhalt von Seegras-Ökosystemen und deren nachhaltige Nutzung von Bedeutung sind.

Seegras-Ökosysteme bieten zahlreiche Funktionen und Dienstleistungen. So können sie als Erosionsschutz dienen, der die Küstenlandschaften bewahrt. Außerdem gelten sie dank der Vielzahl mit ihnen verbundener Tiere und Algen als Oasen der biologischen Vielfalt. Obendrein bieten sie sich aufgrund ihrer Fähigkeit, Kohlenstoff in der unterirdischen Biomasse zu speichern, als naturbasierte Lösung für den Klimaschutz an. Sowohl zur Erhaltung als auch zur Wiederherstellung dieser Ökosysteme wird intensiv geforscht – denn Seegräser gehen ebenso wie Korallenriffe durch die Klimaerwärmung und andere menschliche Einflüsse verloren.

Eine internationale Gruppe von 38 Forschenden, koordiniert von Professor Dr. Yves Van de Peer, Universität Gent, Belgien, Professorin Dr. Jeanine Olsen, Universität Groningen, Niederlande, Professor Dr. Thorsten Reusch, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, Deutschland, Dr. Gabriele Procaccini, Stazione Zoologica Anton Dohrn, Neapel, Italien, und des Joint Genome Institute, Berkeley, Kalifornien, Vereinigte Staaten von Amerika, sequenzierten und analysierten nun die Genome von drei der wichtigsten Seegras-Arten: dem ikonischen, nur im Mittelmeerraum vorkommenden Neptungras (Posidonia oceanica), dem weit verbreiteten Kleinen Neptungras (Cymodocea nodosa) und dem in der Karibik endemischen Schildkrötengras (Thalassia testudinum). Die Forschenden untersuchten zunächst die Genomstruktur der Pflanzen. Anschießend verglichen sie Genfamilien und genomische Modifikationen, die mit strukturellen und physiologischen Anpassungen verbunden sind. Hierbei verglichen sie die drei marinen Seegräser auch mit deren verwandten Süßwasserarten. Ihre Ergebnisse präsentieren die Forschenden in einer heute erscheinenden Publikation in der Fachzeitschrift Nature Plants.

Die internationale Zusammenarbeit bestätigt: „Viele Hände und Hirne machen die Arbeit leicht.“ Am Anfang stand ein Rückblick in die Evolution der Genom-Struktur, gefolgt von einer vergleichenden Analyse der mehr als 20.000 Gene und der relevanten Entwicklungswege, die zu den spezifischen marinen Anpassungen führten. Anschließend konzentrierten sich die 23 kooperierenden Forschungsteams auf verschiedene komplementäre strukturelle oder funktionelle Genfamilien einschließlich ihrer physiologischen Funktionen. Eine zentrale Frage war, ob die genomischen Anpassungen parallel oder unabhängig voneinander entstanden und vielleicht sogar unterschiedliche Gene betreffen.

Professorin Dr. Olsen betont: „Seegräser haben eine extrem seltene Folge von Anpassungen durchlaufen. Während die Neuanpassung an ein Leben im Süßwasser in der Evolutionsgeschichte der Blütenpflanzen mehr als 200 Mal stattgefunden hat – was Hunderte von Stämmen und Tausenden von Arten umfasst – haben sich Seegräser nur drei Mal aus ihren Süßwasser-Vorfahren entwickelt – mit 84 zugehörigen Arten. Dies erforderte eine spezielle Toleranz, etwa gegenüber hohem Salzgehalt, geringerem Licht, unterschiedlichen Wassertemperaturen, der Aufnahme von Kohlenstoff für die Photosynthese unter Wasser, einer anderen Abwehr von Krankheitserregern, struktureller Flexibilität und der Fähigkeit zur Unterwasserbestäubung.“

Ein wichtiges Ergebnis war, dass die Seegräser in der Lage waren, radikale Anpassungen durch Genomverdopplung vorzunehmen, wie sie oft mit starkem Umweltstress verbunden sind. „Der Vergleich der drei unabhängigen Seegras-Linien und den Linien ihrer Süßwasser-Verwandten ergab eine gemeinsame lange zurückliegende Verdreifachung des gesamten Genoms vor etwa 86 Millionen Jahren. Das ist sehr interessant, weil große Teile des Ozeans zu dieser Zeit sauerstofffrei waren und es sich um ein Stressereignis handelt, das sich in allen drei Linien niederschlug“, erklärt Professor Dr. Van De Peer.

Darüber hinaus stellten die Forschenden fest, dass sich die Beibehaltung und Erweiterung einiger Genfamilien durch erhalten gebliebene genetisch gleich strukturierte Blöcke auf diese frühen Verdoppelungen zurückverfolgen ließ. Zu diesen Genen gehörten etwa Flavonoide, die Schutz vor ultravioletter Strahlung und Pilzen bieten und gleichzeitig die Rekrutierung von stickstofffixierenden Bakterien anregen, oder auch erweiterte spezielle Enzyme, mit deren Hilfe die Pflanzen Sauerstoffmangel in Sedimenten widerstehen können. Auch Gene, die den Tag-Nacht-Wechsel steuern, zählten hierzu. Die Ergebnisse zeigen auch, dass von einer Stelle an die andere „springende“ Gene eine wichtige Rolle bei der Schaffung neuer genetischer Variationen spielen, auf die die Selektion einwirken kann. Dies galt insbesondere für die großen Genome von Thalassia testudinum und Posidonia oceanica.

Das Team stellte außerdem fest, dass mehrere Anpassungen das Ergebnis evolutionsbiologischer Konvergenz sind. Dies galt vor allem für Merkmale, die untergetaucht im Meerwasser überflüssig oder schädlich wurden. Zu den überzeugenden Beispielen einer Entwicklung im Sinne von „Nutzen oder verlieren“ gehören der Verlust von Genen für die Spaltöffnungen – die winzigen Öffnungen in der Blattoberfläche, die den Gasaustausch mit der Atmosphäre ermöglichen – oder der Verlust von Genen für flüchtige Stoffe zur Übertragung von Signalen für eine Abwehr von Krankheitserregern und zur Toleranz gegenüber marinen Hitzewellen, insbesondere Hitzeschockfaktoren.

Dr. Procaccini erklärt: „Bei einigen Anpassungen handelte es sich eher um eine Modifikation bestehender Gene, als um einen Funktionswechsel oder Verlust ganzer Gene. Die Salztoleranz ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Effizienz mehrerer Prozesse zur Regulierung von Natrium, Chlor und Kalium gesteigert wurde, und das betraf mehrere physiologische Schritte.“

Professor Dr. Reusch fasst zusammen: „Die meisten ökologisch wichtigen Merkmale beruhen auf komplexen Eigenschaften, für die viele Gene über flexible Wege zusammenwirken. Mit dem genomischen Werkzeugkasten, der jetzt für die wichtigsten Seegräser entwickelt wurde, können wir beginnen, sie experimentell zu testen und zu manipulieren. Dies ist besonders wichtig für die Wiederherstellung unter Klimawandelszenarien, die viele der hier diskutierten Bedingungen beinhalten.

Die neuen Erkenntnisse zur genetischen Entwicklung der Seegräser werden experimentelle und funktionelle Studien voranbringen, die für ein transformatives Management und die Wiederherstellung von Seegras-Ökosystemen besonders wichtig sind. Sie sind eine enorme Ressource für die Forschungsgemeinschaft, um auch die zukünftige Anpassungsfähigkeit von Seegras-Ökosystemen zu verstehen und möglicherweise gezielt zu erhöhen.

Originalpublikation:

Ma, X., Vanneste, S., Chang, J. et al. Seagrass genomes reveal ancient polyploidy and adaptations to the marine environment. Nat. Plants (2024). https://doi.org/10.1038/s41477-023-01608-5

Weitere Informationen:

http://www.geomar.de/n9309 Bildmaterial zum Download
https://www.ugent.be Universität Gent
https://www.rug.nl Universität Groningen
https://jgi.doe.gov Joint Genome Institute
https://www.szn.it Stazione Zoologica Anton Dohrn
https://www.geomar.de/entdecken/seegraswiesen GEOMAR Entdecken: Seegraswiesen

https://www.geomar.de/news/article?…

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GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel

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