Ein Schichtmaterial stoppt Vibrationen und Lärm

Die Erstautorin Ioanna Tsimouri lässt das von ihr entwickelte Schichtmaterial zum Test fallen.
(c) Michel Büchel / ETH Zürich

Materialforschende haben einen neuen Verbundstoff geschaffen, der zwei unvereinbare Eigenschaften auf sich vereint: er ist steif und trotzdem stark dämpfend.

In Kürze

  • Vibrationen schaden Maschinen und Gebäuden, Lärm ist störend und ungesund. Deshalb braucht es dämpfende Materialien, die zugleich steif sind.
  • ETH-Materialforschende haben basierend auf Simulationen eine neue Klasse von Verbundmaterialien entwickelt, die beide Eigenschaften auf sich vereinen.
  • Diese Materialien bestehen aus Schichten eines steifen Werkstoffs und superdünnen Polymerschichten.

Ein Kompressor brummt, eine Klimaanlage scheppert, das Fahrgestell eines Eisenbahnwagons rattert und schüttelt die Fahrgäste durch: Vibrationen sind nicht nur nervig, sie können auch schädlich sein. Sie zerstören auf die Dauer Material und Maschinen und verkürzen deren Lebensdauer. Zudem schädigt der durch die Schwingungen erzeugte Lärm die Gesundheit.

Ingenieur:innen verbauen deshalb in vielen technischen Anwendungen dämpfende Materialien wie Schäume, Gummis oder mechanische Elemente wie Federn oder Stossdämpfer, um Vibrationen und Lärm zu unterdrücken. Das macht Maschinen oder Geräte allerdings voluminöser, schwerer und teurer. Darüber hinaus ist es nicht immer möglich, mit nachträglich angebrachten Dämpfungselementen Vibrationen wirksam zu unterdrücken.

Weltweit besteht deshalb eine hohe Nachfrage nach Materialien, die steif und tragend sind, aber auch eine hohe Dämpfung erzielen. Einen solches Material zu entwickeln, ist nicht einfach, da sich die beiden Eigenschaften gegenseitig ausschliessen.

ETH-Materialforschende haben nun aber ein Material entwickelt, das das vermeintlich Unvereinbare auf sich vereint. Gelungen ist das Kunststück Ioanna Tsimouri in ihrer Doktorarbeit bei Andrei Gusev und Walter Caseri, beides Professoren am Departement Materialwissenschaft der ETH Zürich. Sie hat Werkstoffe geschaffen, die aus mehreren Lagen eines steifen Materials bestehen, die durch ultradünne gummiartige Polymerschichten miteinander verbunden sind.

Für ihre ersten Prototypen verwendete Tsimouri Glas- und Siliziumplatten von lediglich 0,2 bis 0,3 Millimeter Dicke. Die gummiartigen Polymerschichten zwischen den Platten messen sogar nur wenige hundert Nanometer. Tests haben aufgezeigt, dass diese neuen Verbundmaterialien tatsächlich die erhofften Eigenschaften aufweisen.

Die Forschenden haben ihre Erfindung im Frühsommer dieses Jahres zum Patent angemeldet und danach in der Fachzeitschrift Composites Part B: Engineering veröffentlicht.

Theoretisch hergeleitet

Zuerst berechnete Tsimouri zusammen mit dem Materialphysiker Gusev mithilfe von Computermodellen, wie dick die verbindenden Polymerschichten sein müssen, damit das Verbundmaterial gleichzeitig sehr steif und stark dämpfend ist.

Diese Berechnungen zeigten ihr, dass die gewünschten Materialeigenschaften nur dann erreicht werden, wenn die Schichtdicken in einem bestimmten Verhältnis zueinanderstehen. So müssen die dämpfenden Polymerschichten weniger als ein Prozent des gesamten Materialvolumens ausmachen, die steifen Glas- oder Siliziumschichten dagegen mindestens 99 Prozent. «Ist die Polymerschicht zu dünn, gibt es kaum Dämpfungseffekte. Ist sie zu dick, ist das Material nicht steif genug», erklärt Tsimouri.

Im Labor umgesetzt

Im nächsten Schritt überprüfte sie gemeinsam mit Caseri die Berechnungen experimentell und stellte im Labor mehrere Varianten des Verbundmaterials her.

Als Material für die steifen Schichten ihres Prototyps verwendete die Forscherin unter anderem Glas, wie es für Smartphone-Bildschirme genutzt wird. Das gummiartige Polymer besteht aus einer Mischung handelsüblicher Polymere auf der Basis von Polydimethylsiloxan (PDMS), die chemisch reaktive Stellen enthalten. Nach der Zugabe eines Katalysators verbinden sich diese Stellen und bilden ein Polymernetzwerk, das die steifen Platten wie eine Zweikomponentendichtung verbindet.

Schliesslich testeten die Materialforschenden in Zusammenarbeit mit Peter Hine von der Universität Leeds die Schichtmaterialien auf ihre mechanischen Eigenschaften, die frequenz- und temperaturabhängig sind. Zum Einsatz kam ein spezieller Beugungstest. Tsimouri prüfte ihre Produkte zudem mit einem einfachen, aber aussagekräftigen praktischen Test: Sie liess die Laminatplatten aus 25 Zentimetern Höhe auf eine Tischplatte fallen und verglich die akustische und mechanische Dämpfung mit derjenigen einer gleich grossen Platte aus reinem Glas.

Dabei bewies das Laminat seine hervorragenden dämpfenden Eigenschaften, aber auch seine Stabilität. Das Aufschlagen auf der Tischplatte war viel leiser. Zudem sprang es nicht auf. Reines Glas hingegen erzeugte beim Aufschlagen auf der Tischplatte einen lauten Knall, sprang auf und überschlug sich. «Mit diesem Test konnte ich zeigen, dass das Laminat Schwingungen und Lärm hervorragend dämpft», sagt Tsimouri.

Breite Anwendungen möglich

Das Laminat könnte in vielen Anwendungen zum Zuge kommen, angefangen bei Fensterglas, Maschinengehäusen oder in Autoteilen. Es könnte verwendet werden von der Luft- und Raumfahrt bis hin zur Sensorik, wo vibrationsfreie Materialien sehr gefragt sind.

Zudem hat das Schichtmaterial einen weiteren Vorzug: Das bindende und dämpfend wirkende Polymer hält eine grosse Spannbreite an Temperaturen aus, ohne dass sich seine dämpfenden Eigenschaften verändern. Erst unterhalb einer Temperatur von –125 Grad Celsius wird das Polymer glasig und verliert seine Dämpfungskapazität.

Nicht zuletzt wäre ein solches Laminat auch nachhaltig und ressourcenschonend. Wenn man Materialien mit «eingebauter» Dämpfung verwendet, braucht man kein zusätzliches Dämpfungsmaterial. Zudem können Glas und Silizium leicht recycelt werden. Beim Einschmelzen würden kleinere Mengen des Polymers zu Glas zerfallen und den Recyclingprozess nicht beeinträchtigen.

Caseri hält die Technologie für gut skalierbar. «Wenn ein Hersteller über entsprechende Maschinen verfügt, kann er das Laminat auch in mehrere Quadratmeter grossen Paneelen herstellen.»

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Ioanna Tsimouri, ETH Zürich, ioanna.tsimouri@gmail.com

Originalpublikation:

Tsimouri IC, Caseri W, Hine PJ, Gusev AA. Lightweight silicon and glass composites with submicron viscoelastic interlayers and unconventional combinations of stiffness and damping. Composites Part B 284 (2024) 111717. Doi: 10.1016/j.compositesb.2024.111717

Weitere Informationen:

https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2024/10/ein-schichtmat…

Media Contact

Peter Rüegg Hochschulkommunikation
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)

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Die Materialwissenschaft bezeichnet eine Wissenschaft, die sich mit der Erforschung – d. h. der Entwicklung, der Herstellung und Verarbeitung – von Materialien und Werkstoffen beschäftigt. Biologische oder medizinische Facetten gewinnen in der modernen Ausrichtung zunehmend an Gewicht.

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