Bewegung statt Pharma – Bewegungstherapie für hyperaktive Kinder
„mundo“ – das Forschungsmagazin der Universität Dortmund berichtet in seiner neuesten Ausgabe über ein Forschungsprojekt, das Alternativen zur medikamentösen Behandlung des „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms“, kurz „ADHS“, sucht. Das Symptom ist seit Mitte der Achtziger Jahre bekannt, doch die Ursachen liegen noch im Dunkeln. Wirksame Therapien gibt es derzeit nur eine. Sie ist pharmazeutisch und häufig unter dem Markennamen „Ritalin“ bekannt, dessen langfristige Nebenwirkungen jedoch noch unerforscht sind. Prof. Dr. Gerd Hölter und Dr. Wolfgang Beudels vom Fachgebiet „Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung“ der Fakultät Rehabilitationswissenschaften setzen auf vergleichsweise einfache Mittel: auf Bewegung und Training. Als ideales Medium für die Therapie von kleinen ADHS-Patienten haben sie neben Spielen in der Turnhalle das Medium Wasser entdeckt.
„mundo“ bietet spannende Reportagen, Portraits und Interviews über Forschungsprojekte an der Universität Dortmund – allgemeinverständlich erklärt für jeden Wissenschaftsinteressierten.
„mundo“ ist kostenlos erhältlich bei der
Universität Dortmund
Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Baroperstr. 285
44227 Dortmund
Tel.: 02131/755-5524
Fax: 0231/755-4664
Email: cordula.kerkes@uni-dortmund.de
Christoph (Name geändert) ist fast acht Jahre alt. Im November wurde bei ihm das so genannte ADH-Syndrom diagnostiziert. Seitdem nimmt er das Psychopharmakon „Ritalin“. Wir sind sehr daran interessiert, dass Christoph an Ihrem Projekt teilnimmt, weil wir der Meinung sind, dass ein Bewegungsprogramm gegen seine motorische Unruhe Erfolg verspricht. Christoph ist ein fröhlicher, aufgeweckter, neugieriger Junge – aber leider ist sein Sozialverhalten überhaupt nicht altersgemäß. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, einen Therapieversuch mit „Ritalin“ zu machen. Dennoch möchten wir im Grunde unseres Herzens so schnell wie möglich wieder davon wegkommen. Wir würden uns über eine positive Antwort sehr freuen.“
Briefe wie dieser, geschrieben von Eltern irgendwo im Ruhrgebiet, erreichen Gerd Hölter immer wieder. Es ist die pure Verzweiflung von Eltern mit hyperaktiven Kindern, die an dem so genannten „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom“ oder kurz „ADHS“ leiden. Die Kinder fühlen sich selbst in ihrer Haut nicht wohl. Ihre Aufmerksamkeit ist sehr schnell erschöpft, sie können sich kaum auf etwas konzentrieren und haben einen ungeheuren Bewegungsdrang. Immerzu sind sie unruhig, rudern oft unkoordiniert mit ihren Armen, düsen aufgeregt durch die Gegend. Das Symptom ist seit Mitte der Achtziger Jahre bekannt, doch die Ursachen liegen noch im Dunkeln. Nur eines steht fest: Das ADHS hat nicht nur eine Ursache. Genetische Veranlagung, Ernährung und soziale Strukturen spielen hier zusammen.
Wirksame Therapien gibt es derzeit nur eine. Sie ist pharmazeutisch und häufig unter dem Markennamen „Ritalin“ bekannt. Ritalin ist ein Metylphenidat, das normalerweise aufputschend wirkt, allerdings bei diesen Kindern erstaunlicherweise sedierend und gleichzeitig dämpfend auf den Bewegungsdrang. Den Erfolg in rund 70 Prozent der Fälle belegen so genannte Meta-Analysen. Genauso wie die Ursachen des „ADHS“ unklar sind, so ist auch die genaue Wirkung von Medikamenten wie Ritalin nicht bekannt. Fakt ist nur, dass es häufig als ein Wundermittel angesehen wird. Es ist so schön einfach: Pille einwerfen und gut ist es. Doch Medikamente wie Ritalin bekämpfen nur die Symptome, nicht aber die Ursachen. Werden sie abgesetzt, dann stellen sich die alten Erregungszustände bei den Kindern wieder ein. Und die langfristigen Nebenwirkungen sind unerforscht. Könnten eventuell Parkinson-Erkrankungen mit der langjährigen Einnahme von Ritalin zusammenhängen? Bergen Amphetamine wie Ritalin vielleicht ein Suchtpotenzial?
An der Universität Dortmund wird nach Alternativen gesucht, das ADHS weniger medikamentös in den Griff zu bekommen. Prof. Dr. Gerd Hölter und Dr. Wolfgang Beudels vom Fachgebiet „Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung“ der Fakultät Rehabilitationswissenschaften setzen auf vergleichsweise einfache Mittel: auf Bewegung und Training. Als ideales Medium für die Therapie von kleinen ADHS-Patienten haben sie neben Spielen in der Turnhalle das Medium Wasser entdeckt. „Wasser ist für diese Kinder ideal“, erläutern sie, denn „es bremst den Bewegungsdrang und wirkt besonders bei höheren Temperaturen entspannend“. Im Wasser kann sich niemand so schnell bewegen wie an Land, weil das andere Element jeder Bewegung Widerstand entgegensetzt. Im Wasser „zappeln“ geht gar nicht. Dazu kommt, dass warmes Wasser den Körper entspannt, weil es ihn umfängt und trägt. So bietet die rein physikalische Umgebung auch gute physiologische Bedingungen, das nasse Element wird zum „ökologischen Ko-Therapeuten“, wie Hölters Mitarbeiterin Christina Koentker es ausdrückt. „Wasser baut schon von sich aus den Bewegungsdrang ab. Wir geben noch spielerische Elemente dazu, um Handlungsplanung und soziale Kompetenz zu entwickeln“, erzählt Christina Koentker. Die Diplom-Pädagogin hat im Rahmen ihrer Diplomarbeit eine Gruppe von sechs Kindern mit ihren Eltern betreut. Mehr als ein Vierteljahr lang trafen sie sich im Sommer an drei Tagen die Woche in einem Warmwasserbecken der Westfälischen Klinik für Psychiatrie in Dortmund-Aplerbeck.
Dort stand eine Stunde praktische Bewegungs- und Verhaltenstherapie auf dem Programm. „Die Kinder sollten sich und ihren Körper besser einschätzen lernen“, skizziert Diplom-Pädagogin Koentker die Ziele. „Sie sollten merken: Was passiert, wenn ich schnell schwimme oder langsam?“ In Gruppenspielen mussten die Kinder Aufgaben lösen, die eine Planung erfordern, denn sie sollten vorher überlegen, was sie wie machen wollen, bevor sie losstürmten. Dabei mussten klare Regeln eingehalten werden. Wer gegen sie verstieß, erhielt Rote und Gelbe Karten wie beim Fußball. So sollten die Kinder zum Beispiel in einer bestimmten Reihenfolge nach farbigen Ringen im Wasser tauchen, diese an die Oberfläche holen und an Land ablegen. Die Kinder waren eifrig dabei. Spielerisch lernten sie, auch mit Niederlagen umzugehen. „Die Frustrationstoleranz erhöhen“, wie es häufig im Fachjargon heißt.
Die Kinder sollten lernen, ihre Impulsivität in geplantes Handeln umzuleiten. Was sie im Wasser spielerisch erfuhren, lernten sie für das Leben draußen: eben nicht gleich jedem Impuls zu folgen, sondern sich vorher Gedanken über die Herangehensweise zu machen. „Wenn Kinder den Sinn von Tätigkeiten erkennen, verhalten sie sich anders“, hat Gerd Hölter festgestellt und sieht bei dem Wassertraining aber auch viele Effekte einer körperlichen Ertüchtigung, da in Untersuchungen zur motorischen Leistungsfähigkeit dieser Kinder auch massive motorische Defizite und Fitnessmängel festgestellt wurden.
Während sich die Kinder unter Anleitung von Christina Koentker im Wasser tummelten, kümmerte sich die Diplom-Pädagogin Pilar Sojo Sojo um die Eltern im „Eltern-Café“. Dabei leuchtete sie auch den familiären Hintergrund aus, der Rückschlüsse auf das Verhalten der Kinder zulässt. Vorher verteilte Fragebögen wurden besprochen und gemeinsam ausgewertet. Sie sollten dabei helfen, das Eltern-Kind-Verhältnis zu klären. Täglich führten die Eltern ihr „Verhaltenstagebuch“, jeden Tag lag ihr Augenmerk auf drei bestimmten Verhaltensweisen ihres Kindes. Sie sollten ihr Kind gezielt beobachten, Veränderungen und besondere Eigenschaften feststellen. Bei der gezielten Beobachtung entdeckten die Eltern überrascht mehr positive Aspekte an dem Verhalten ihrer Kinder, als sie bisher für möglich gehalten hatten. Im Fachjargon würde man dieses Vorgehen „ressourcenorientiert“ nennen. „Wir versprechen kein Allheilmittel. Wir können Ritalin auch nicht abschaffen. Aber mit unserer Methode soll es möglich werden, die Dosis zu senken. Mehr Bewegung und Therapie, dafür weniger Ritalin – das ist unser Konzept“, stellt Hölter klar, der keine Patentrezepte anbieten will, obwohl er kritische Worte findet: Immer mehr Kinder kommen unter dem Ticket „ADHS“ in die Therapie.
„Hausärzte und sogar Zahnärzte attestieren in Deutschland „ADHS““, kritisiert Hölter die zunehmende Zahl von Patienten. Seiner Meinung nach sind die Fallzahlen von ADHS-Patienten in Deutschland um etwa das Zehnfache überhöht. Da müssten einfach viele Verlegenheitsdiagnosen darunter sein, anders könne man sich den drastischen Anstieg der Fallzahlen seit Mitte der Neunziger Jahre nicht erklären. Und: Medikamente wie Ritalin seien eben einfacher und vor allem billiger als Bewegungstherapie oder die noch kostenträchtigere Psychotherapie für Kinder.
Das neue Therapietraining, das derzeit an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund entwickelt wird, könnte hyperaktiven Kindern einmal über die Region hinaus helfen. Spielerisch, kindgerecht und ohne Medikamente, damit die Eltern entlastet und ihnen neue, schöne und sehr liebenswerte Seiten an ihren Kindern aufzeigt werden.
Media Contact
Weitere Informationen:
http://www.uni-dortmund.de/Alle Nachrichten aus der Kategorie: Medizin Gesundheit
Dieser Fachbereich fasst die Vielzahl der medizinischen Fachrichtungen aus dem Bereich der Humanmedizin zusammen.
Unter anderem finden Sie hier Berichte aus den Teilbereichen: Anästhesiologie, Anatomie, Chirurgie, Humangenetik, Hygiene und Umweltmedizin, Innere Medizin, Neurologie, Pharmakologie, Physiologie, Urologie oder Zahnmedizin.
Neueste Beiträge
Sensoren für „Ladezustand“ biologischer Zellen
Ein Team um den Pflanzenbiotechnologen Prof. Dr. Markus Schwarzländer von der Universität Münster und den Biochemiker Prof. Dr. Bruce Morgan von der Universität des Saarlandes hat Biosensoren entwickelt, mit denen…
Organoide, Innovation und Hoffnung
Transformation der Therapie von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bauchspeicheldrüsenkrebs (Pankreaskarzinom) bleibt eine der schwierigsten Krebsarten, die es zu behandeln gilt, was weltweite Bemühungen zur Erforschung neuer therapeutischer Ansätze anspornt. Eine solche bahnbrechende Initiative…
Leuchtende Zellkerne geben Schlüsselgene preis
Bonner Forscher zeigen, wie Gene, die für Krankheiten relevant sind, leichter identifiziert werden können. Die Identifizierung von Genen, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind, ist eine der großen…