Natürliche Auslese beim Sprechen

Stimmlose Konsonanten am Wortende entstanden in der Geschichte der menschlichen Sprache häufig. Wie biologischen Organismen auch, können Laute sich an verschiedenen Orten parallel entwickeln. Bild: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Entstehung der Sprachen ist nicht Resultat einer Universalgrammatik, sondern paralleler Selbstorganisation

Auf welche Weise sich die menschlichen Sprachen in den vergangenen 7.000 bis 8.000 Jahren und speziell die verschiedenen Laute und Lautmustern herausgebildet haben, ist weltweit Gegenstand intensiver Forschungen. Juliette Blevins vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat jetzt auf der Jahrestagung der AAAS in Washington einen neuen Erklärungsansatz vorgestellt, warum genetisch nicht verwandte Sprachen von so weit entfernten Familien, wie Native American, Australian Aboriginal, Austronesian, und Indo-European, oft die gleichen Lautmuster zeigen und umgekehrt, wieso es bei Lautmustern, die man bisher als universell betrachtet hat, so viele Ausnahmen gibt. Menschen erlernen demnach diese Muster anhand tausender von Beispielen, denen sie in ihrem ersten Lebensjahr ausgesetzt sind. Das Auftreten ähnlicher Lautmuster in nicht miteinander verwandten Sprachen deuten deshalb darauf hin, dass Sprache ein System ist, das sich an verschiedenen Orten selbst organisiert.

Das neue Modell zum Lautwandel deutet darauf hin, dass auffällige phonetische Ähnlichkeiten nicht miteinander verwandter Sprachen und das seltene Auftreten bestimmter Laute auf die Wirkung evolutionärer Prinzipien zurückgeführt werden können. Deutsch und Russisch sind nicht die einzigen Sprachen, in denen stimmhafte Konsonanten wie b, d und g ihr charakteristisches „Summen“ am Ende des Wortes verlieren. Dutzende nicht miteinander verwandter Sprachen – von Afar, das in Äthiopien gesprochen wird, bis Ingush, das man im Nordkaukasus hört – haben ganz ähnliche Lautmuster.

Warum findet man ähnliche Muster in nicht miteinander verwandten Sprachen? Warum findet man am Wortende häufiger die „leisen“ p t k Laute als die „lauten“ b d g Laute? Warum treten diese Laute in sehr vielen Sprachen auf, während beispielsweise die so genannten Klicklaute in der Geschichte der menschlichen Sprache einmalig sind? Dr. Juliette Blevins, Wissenschaftlerin am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, hat möglicherweise eine Antwort auf diese und andere phonologische Rätsel gefunden und auf dem Symposium zur Evolutionären Phonologie auf der diesjährigen Jahrestagung der AAAS (American Association for the Advancement of Science) in Washington, DC vorgestellt.

Aufbauend auf dem Werk eines chinesischen Forschers aus dem 16. Jahrhundert, den bekannten Leipziger Junggrammatiker des 19. Jahrhunderts und natürlich Charles Darwin zeigt Blevins, dass gemeinsame Lautmuster in nicht miteinander verwandten Sprachen auf eine Parallelevolution hindeuten. Da Sprache auf einem natürlichen Weg von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, bestimmt die menschliche Wahrnehmung und Artikulation von Lauten, welche Veränderungen sich häufiger durchsetzen als andere (wie z.B. der Übergang von b d g zu p t k am Wortende). Außerdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein einfacher Konsonant fälschlicherweise als Klicklaut wahrgenommen oder artikuliert wird, sodass es für diesen kaum Gelegenheit zu einer natürlichen Evolution gibt.

Was Blevins mit ihrer Theorie sagen will, geht weit über unser herkömmliches Verständnis von Vokalen und Konsonanten hinaus. Indem sie erklärt, wie in nicht miteinander verwandten Sprachen ähnliche Lautmuster entstehen konnten, unterminiert die Evolutionäre Phonologie einen zentralen Grundsatz der modernen Linguistik nach Chomsky: Nämlich den, dass die Universale Grammatik, eine dem Menschen angeborene kognitive Fähigkeit, eine Hauptrolle beim Formen der Grammatik spielt. Blevins argumentiert vielmehr, dass Menschen Lautmuster anhand tausender von Beispielen, denen sie in ihrem ersten Lebensjahr ausgesetzt sind, erlernen. Treten also ähnliche Lautmuster in nicht miteinander verwandten Sprachen auf, so deutet das darauf hin, dass die Sprache ein System ist, das sich – in unterschiedlichen Regionen der Erde und zu unterschiedlichen Zeiten – selbst organisiert.

Weitere Teilnehmer am AAAS-Symposium zur Evolutionären Phonologie sind Prof. Terrence Deacon (University of California, Berkeley), Prof. Janet Pierrehumbert (Northwestern University) und Prof. Andrew Wedel (University of Arizona, Tucson).

Originalveröffentlichung: Juliette Blevins – Evolutionary Phonology: The Emergence of Sound Patterns

Media Contact

Dr. Andreas Trepte idw

Weitere Informationen:

http://www.mpg.de

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