Lernstörungen: Dahinter stecken oft behandelbare medizinische Probleme
FU-Mediziner zum Ferienende:
- Schulprobleme können häufig behoben werden
- Vor allem Hörstörungen werden oft übersehen
- Warnung vor übereilter Pillen-Gabe
Schlechte Schulnoten sind beileibe nicht immer Folge von Faulheit. Lernprobleme haben oft medizinische Gründe, die sich meist beheben lassen. Deswegen sind regelmäßige Eingangsuntersuchungen beim niedergelassenen Arzt, nötigenfalls in einer Spezialambulanz, für die Zukunft der Kinder von entscheidender Bedeutung.
Darauf weisen rechtzeitig zum Beginn des neuen Schuljahres (in Berlin und Brandenburg am 3. September) Ärzte und Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF) hin.
Prof. Manfred Gross, Direktor der Klinik für Audiologie und Phoniatrie, berichtet, dass gerade auch Hörstörungen („auditive Verarbeitungs- oder Wahrnehmungsstörungen“) viel zu häufig übersehen werden. Im übrigen warnt er auch davor, bei nicht ausreichend diagnostizierter Hyperaktivität („Zappelphilipp-Syndrom“) vorschnell zu Medikamenten zu greifen.
Das UKBF bietet Ärzten als Anlaufstelle und in besonderen Fällen auch Eltern seine Hilfe an. Spezielle, sehr aufwendige Diagnosetechniken sind innerhalb der Region nur hier verfügbar.
Der Fachbereich Humanmedizin der Freien Universität befasst sich seit Jahren mit der Erforschung solcher Einschränkungen der Lernfähigkeit, unter anderem im Rahmen eines groß angelegten Projektes, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird.
Die Klinik für Audiologie und Phoniatrie des UKBF registriert in den letzten Jahren einen drastischen Anstieg von jungen Patienten mit großen Schulschwierigkeiten. Allein im vorigen Jahr wurden 200 Kinder wegen erheblicher Probleme beim Schreiben und Lesen untersucht. Nicht selten haben die Kinder eine Odyssee hinter sich. Zuvor hatten Eltern und Lehrer oft beobachtet, dass die Gedächtnisleistung für gesprochene Sprache sowie die auditive Unterscheidungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Tatsächlich trifft dies etwa bei der Hälfte der vorgestellten Patienten zu. Bei einem Teil, besonders bei Kindern mit Leselern-Problemen, bestehen Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung.
Die größte Gruppe der vorgestellten Kinder sind Schüler der 2. bis 4. Klasse. Viele von ihnen hatten Probleme beim Spracherwerb oder lang anhaltende, frühkindliche Hörstörungen. Bei einigen finden sich auch zum Untersuchungszeitpunkt noch Hörstörungen, die vom Umfeld bisher unerkannt geblieben sind, aber unbedingt behandelt werden müssen. Lebensbedrohliche Veränderungen (wie Tumoren) sind in diesem Zusammenhang zum Glück höchst selten.
Typische Schwierigkeiten von Kindern mit Störungen in der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung treten beim Diktatschreiben auf. Auslöser für die Beschwerden können krankhafte Veränderungen an Außen-, Mittel- und Innenohr, an den aufsteigenden Hörbahnen sowie in der zentralen Verarbeitung sein.
Wechselwirkungen bestehen gelegentlich mit anderen Symptomen. Hierzu gehört eine reduzierte Aufmerksamkeit und die Hyperaktivität. Nach Meinung der Wissenschaftler am UKBF wird bei diesen Symptomen zu großzügig und zu voreilig zu einer medikamentösen Therapie gegriffen. Nur wenn eine differenzierte Diagnostik der Lernstörungen erfolgt, kann eine ursächlich orientierte Therapie stattfinden.
Gerade auditive Störungen bedürfen der universitären Medizinforschung, denn vieles weiß auch die Wissenschaft noch nicht: zum Beispiel, wie sich die Nervenstrukturen bereits bei Säuglingen und Kleinkindern in Abhängigkeit vom Hörvermögen entwickeln und welche Wechselwirkungen zur Sprachentwickung und damit später auch zu den Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bestehen. Die UKBF-Klinik für Audiologie und Phoniatrie untersucht innerhalb einer interdisziplinären DFG-Forschergruppe dieses Phänomen an Kindern von der Geburt bis zum Alter von zunächst drei Jahren. Besonders aufschlussreich sind dabei elektrophysiologische Messungen, mit denen objektiv, also ohne Mitarbeit der untersuchten Kinder, die Fähigkeiten zur auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung in der frühkindlichen Entwicklung untersucht werden können.
Den Forschern am UKBF ist es als erster Gruppe gelungen, dieses sehr aufwendige Verfahren auch in die Routinediagnostik zur Abklärung von auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen zu übernehmen.
Hierbei werden neben den elektrophysiologischen Untersuchungen auch umfangreiche Hörprüfungen vorgenommen, mit denen die einzelnen Etappen der Hörbahn differenziert untersucht werden können. Die äußeren Anteile der Hörbahn (wie Mittel- und Innenohr) sind in erster Linie für die Fähigkeit verantwortlich, auch sehr leise Geräusche zu hören. Für das Speichern und Wiedererkennen komplexer Geräusche – wie zum Beispiel Sprache – sind die zentral gelegenen Anteile, also die übergeordneten Bereiche der Hörrinde zuständig. Auch hierfür gibt es Untersuchungsverfahren, die in der Klinik für Audiologie und Phoniatrie routinemäßig zum Einsatz kommen.
Die ersten vier Lebensjahre sind wesentlich für die Entwicklung eines normalen Sprachhörvermögens. Bereits bei einem Hörverlust von mehr als 25 dB über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten (wie er etwa bei häufigen Mittelohrentzündungen eintritt) sind nicht wieder gutzumachende Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung zu befürchten. Die Klinik für Audiologie und Phoniatrie des UKBF stellt dafür als einzige Anlaufstelle in Berlin und Brandenburg spezielle Diagnostik bereit. Es wundert deshalb auch nicht, dass der Andrang riesig ist und die Wartezeiten über sechs Monate betragen. Die Forscher geben sich jedoch nicht nur mit der Diagnostik zufrieden, sondern haben den Ehrgeiz, auf der Basis einer Schwächen-Stärken-Analyse ein differenziertes Rehabilitationsprogramm anzubieten. Dabei entscheidet sich, ob operative Maßnahmen, ein Hörgerät, spezielle Übungen oder Nachhilfeunterricht – also medizinische oder nichtmedizinische Behandlung – angezeigt sind.
Eltern von Kindern mit Schulschwierigkeiten rät Professor Gross, die Probleme so früh wie möglich mit den Lehrern zu besprechen und dafür zu sorgen, dass eine Abklärung der allgemeinen Leistungsfähigkeit erfolgt, etwa durch den Schulpsychologischen Dienst. Weitere Schritte zur Eingrenzung der Problematik sind die augenärztliche und die ohrenärztliche Untersuchung. Eine weiterführende Diagnostik zur Sprachwahrnehmung wird von Fachärzten für Phoniatrie und Pädaudiologie angeboten. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin ist bei der Suche nach entsprechenden Spezialisten behilflich. Wenn dann noch Fragen offen sind, besteht die Möglichkeit zur Untersuchung an der Klinik für Audiologie und Phoniatrie des UKBF. Im Rahmen eines Forschungsvorhabens wird dort auch die kostenlose Untersuchung von Säuglingen angeboten, deren Eltern gravierende Sprachentwicklungsstörungen hatten.
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