"Verdrehte" Moleküle erzählen die Geschichte des Wattbodens

Mit Anpassung einer neuen Methode an die Verhältnisse in der südlichen Nordsee gelingt es Wissenschaftlern des Wilhelmshavener Forschungszentrums TERRAMARE, Alter und Zuwachsgeschwindigkeit von Wattböden zu ermitteln. Wichtig ist dies unter anderem im Hinblick auf Meeresspiegelanstieg und Küstenschutz.


Prof. Gerd Liebezeit und Dipl.-Chem. Daniel Ziehe haben am Wilhelmshavener Forschungszentrum TERRAMARE eine neue Art von Zeitmesser erstmalig in Deutschland eingesetzt, um Alter und Anhäufungsraten von Wattablagerungen zu bestimmen. Bedeutsam ist dies zum Beispiel für Prognosen bezüglich der Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs und Empfehlungen für den Küstenschutz. Eine wichtige Rolle spielen bei der Zeitbestimmung Tiere im Sediment, die kalkige Überreste produzieren. Erste Versuchsergebnisse sind in sehr guter Übereinstimmung mit Pegelauswertungen.

Wer häufiger Wattwanderungen unternimmt, dem fällt es auf: Priele verändern sich, schlickige Bereiche verfestigen sich, sandige Zonen verschlicken und vieles mehr. Kurz: Das Wattenmeer ist in stetigem Wandel begriffen. Wie schnell aber häufen sich die sogenannten Sedimente an, wie lange ist es her, daß sie abgelagert wurden? Dies sind Fragen, die die Wissenschaft – mit durchaus praktischem Bezug – beschäftigen.

Wollte man bislang etwas über das Alter der Wattbodenschichten erfahren, so benutzte man dazu fast ausschließlich die 14C-Methode. Grundlage hierfür: Unter dem Einfluß kosmischer Strahlung entsteht in der Atmosphäre aus Stickstoff fortwährend ein spezielles Kohlenstoffatom: 14C (sprich „Ceh vierzehn“). Über Kohlendioxid wird es zu Lebzeiten in den Körper etwa einer Pflanze eingebaut. Stirbt die Pflanze, hört der Einbau auf. Durch den radioaktiven Zerfall des bis dahin eingebauten Kohlenstoffs entfernt sich der 14C -Gehalt im toten Pflanzenmaterial immer weiter vom Lebendwert – ein Maß für das Alter der Pflanze.

Schönheitsfehler der 14C-Methode: Sie funktioniert nur an Proben, die reich an ehemals lebendem, sogenanntem organischem Material sind. Im Wattboden gehören zum Beispiel Torfe dazu. Auf diese Weise erhält man zwar Zeitmarken ähnlich etwa den Markierungen auf dem Ziffernblatt einer Uhr. Sind die Markierungen jedoch – vergleichbar einem modischen Ziffernblatt – spärlich gesetzt, kann das Alter dazwischen liegender Schichten nur abgeschätzt werden. Weil die Bildung der Wattschichten häufig wechselnden Bedingungen ausgesetzt war, gerät die Abschätzung zwischen den Zeitmarken zum Ratespiel. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich stürmische Phasen mit solchen relativer Windstille oder aber solche starker Meeresspiegelanhebung mit solchen geringeren Anstiegs abwechselten – der Wissenschaftler spricht von einer dynamischen Entwicklung. Im Hinblick auf die Zeitskala ist es, als liefe eine Uhr zwischen den Zeitmarken ihres Ziffernblattes ungleichmäßig schnell.

Gerade für Gebiete hoher Dynamik bietet die neue Methode der TERRAMARE-Forscher Abhilfe. Findet man in den Ablagerungen kalkige Hinterlassenschaften biologischen Ursprungs, Muschelschalen zum Beispiel, dann lassen sich die Zeitlücken auffüllen. Damit werden 14C-Messungen und das selten angewendete Verfahren der Thermolumineszenz sinnvoll ergänzt.

Hilfreich sind den Forschern bei ihrem neuen Verfahren die Bausteine von Eiweißen, die Muscheln in ihre Schalen einbauen. Alle Organismen verwenden für ihre Eiweiße etwa 20 verschiedene Arten dieser sogenannten Aminosäuren. Und fast jede davon kommt in zwei Versionen vor, von denen aber nur eine in Pflanze oder Tier eingebaut wird. Um zu verdeutlichen, wie sich die beiden extrem ähnlichen Aminosäureformen unterscheiden, stelle man sich vor, daß sie in ihrem Innern jeweils ein besonderes Kohlenstoffatom besitzen, der Einfachheit halber repräsentiert durch je eine Kugel. Eine solche Kugel verfügt nun über vier Ärmchen, deren jedes einen anderen geometrischen Körper als Symbol für die unterschiedlichen Molekülreste festhält: Sagen wir eine Pyramide, einen Kegel, einen Würfel und einen Quader. Man stelle sich weiter vor, diese vier geometrischen Formen seien über die Ärmchen gleichmäßig um das jeweilige Kohlenstoffatom verteilt. Hält man diese Anordnung im Gedankenexperiment vor einen Spiegel, sieht man ein „verdrehtes“ – besser: gespiegeltes – Abbild für die zweite Form der gleichen Aminosäure. Wie in dieser Modellvorstellung verhalten sich auch in der Realität beide Aminosäure-Formen wie Bild und Spiegelbild. Sie sind nicht zur Deckung zu bringen. Man könnte auch sagen, sie ähneln sich sich wie linke und rechte Hand, weswegen der Chemiker bei derartigen Verbindungen oft auch von Chiralität spricht (von griech.: cheiros = Hand). Das Besondere an Bild und Spiegelbild ist, daß sie chemisch weitgehend gleichartig reagieren.

Wie nun hilft dieses Phänomen den Forschern? Nun, aufgrund der verschiedenen räumlichen Anordnung wird in biologischen Systemen die eine Aminosäureform aussortiert. Enzyme etwa, jene in Lebewesen Reaktionen beschleunigenden Eiweiße, besitzen in ihrem Innern Taschen, die nur eine der Formen aufnehmen können. Das Spiegelbild ist von der Reaktion so ausgeschlossen.

Abhängig von der relativen Anordnung der unterschiedlichen Molekülschnipsel um das zentrale Kohlenstoffatom – im Gedankenmodell die geometrischen Körper – sprechen Chemiker von L-und D-Form (L leitet sich dabei vom lateinischen laevulus = links, D von dexter = rechts ab). Lebewesen bauen fast ausschließlich L-Aminosäuren ein. Diese wandeln sich mit der Zeit in einer von der Umgebungstemperatur abhängigen Reaktion solange in die D-Form um, bis ein stabiles Gleichgewicht erreicht ist. Das kann unter dem Einfluß eben der Temperatur, aber vor allem je nach Aminosäure, von einigen hundert bis zu einigen Millionen Jahren dauern.

Aus Miesmuschelschalen, die die Wilhelmshavener Forscher im Rückseitenwatt der Insel Spiegeroog fanden, haben sie sich bislang eine dieser Aminosäuren ’herausgepickt’. Mit einem speziellen Trennverfahren gelingt es, die Mengenverhältnisse von D- und L-Form in den Schalenresten aus unterschiedlichen Watttiefen zu bestimmen und daraus ihr Alter abzuleiten. Es ergab sich eine durchschnittliche Sedimentationsaufwuchsrate von 36 ± 10 Zentimetern je Jahrhundert. Das entspricht recht gut den aus Pegelauswertungen erhaltenen Werten von 25 – 30 Zentimetern/Jhdt.

Leider finden sich im Watt nur selten Miesmuschelklappen in Lebendstellung. Weitaus häufiger muß sich der Wissenschaftler mit Schalenbruchstücken, sogenanntem Schill, zufrieden geben. Nachteil: Herkunft und Transportweg zum Ort der Einbettung sind unbekannt. Besser geeignet scheint für die neuartige Altersbestimmung die Sandklaffmuschel, die häufig so, wie sie zum Zeitpunkt ihres Todes aussah, in Sedimentkernen gefunden wird. In einem weiteren Projekt, für das inzwischen finanzielle Unterstützung beantragt wurde, sollen die Untersuchungen mit der Sandklaffmuschel fortgeführt und auf weitere Aminosäuren ausgedehnt werden. Auf diese Weise wollen Liebezeit und Ziehe die Genauigkeit des Verfahrens erhöhen und den Datierungszeitraum erweitern.

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Dr. Sibet Riexinger idw

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