Riesenprotein Titin hilft beim Muskelbau
Es ist, als hielte man mit einer Hand zwei Schlangen an ihren Enden fest, um sie daran zu hindern, sich in entgegengesetzte Richtungen davonzumachen. Etwas Ähnliches geschieht mit einem für den Aufbau von Muskelfasern entscheidenden Protein, wie Wissenschaftler der Hamburger Außenstelle des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) und ihre Projektpartner vom Londoner King’s College jetzt entdeckt haben. Die Arbeit der Forscher ist in der aktuellen Ausgabe von Nature veröffentlicht worden.
Unter dem Mikroskop gleicht ein Muskel Millionen winziger, in langen Reihen nebeneinander angeordneter Fäden. Diesen Strukturen, so genannten Sarkomeren, verdanken wir Menschen unsere Bewegungsfähigkeit. An ihren Enden sind Sarkomere über Z-Scheiben, breite Bänder aus dichtgepackten Molekülen, miteinander verbunden.
„Sarkomere sind hochkomplexe Strukturen – seit vielen Jahren untersuchen wir die einzelnen Schritte ihres Aufbaus“, erklärt der Leiter der EMBL-Außenstelle Matthias Wilmanns. „Der Vernetzung dieser molekularen Komponenten, besonders in der Z-Scheibe, kommt eine zentrale Bedeutung zu. Wie die Strukturen dieser Vernetzungen aussehen, war bis jetzt weitgehend unbekannt.“
Wilmanns’ Forschungslabor und das Team von Mathias Gautel, einem EMBL-Alumnus, der jetzt am Londoner King’s College forscht, haben nun gezeigt, dass Titin, das größte menschliche Protein, beteiligt und in der Z-Scheibe verankert ist. Von dort aus erstreckt sich Titin in seiner vollen Länge über das halbe Sarkomer.
Die jüngste Untersuchung der Teams um Wilmanns und Gautel gibt nach mehr als zehn Jahren Forschung eine Antwort auf die Frage nach dem Ablauf des Zusammenbaus. Peijan Zou und Nikos Pinotsis aus Wilmanns’ Labor ist es gelungen, Teile des Titinmoleküls im Verbund mit einem weiteren Protein namens Telethonin zu kristallisieren. An der EMBL-Außenstelle in Hamburg auf dem Gelände des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY) analysierten sie die Kristalle in hochenergetischer Röntgenstrahlung. Auf der hochdetaillierten Aufnahme der Verbindungen zwischen den Proteinen entdeckten die Forscher dabei, dass Telethonin die Enden von zwei Titinfäden auf eine Weise miteinander verbindet, die Anhaltspunkte über den Aufbau von Sarkomeren geben kann.
Mit Hilfe moderner Mikroskopiermethoden konnten die Forscher im Labor von Gautel beobachten, wie sich die Moleküle in der lebenden Zelle miteinander verbinden. „Dass Telethonin am Ende des Titin-Moleküls als eine Art ‚Kappe’ fungiert, wussten wir,“ erläutert Gautel, „nicht jedoch, wie es zwei einzelne Proteine zusammenbringt. Das hat unsere Untersuchung jetzt gezeigt.“
Wilmanns ergänzt: „Wir haben festgestellt, dass Telethonin eine Art innere Symmetrie aufweist, durch die es zwei auseinanderstrebende Titin-Moleküle festzuhalten vermag. Das ist etwas Neues. Zuvor hatten wir bereits andere einzelne Proteine gefunden, die sich als ‚Palindrome’ an DNA-Moleküle heften können – hier aber haben wir erstmals beobachtet, dass Proteine selbst auf diese Weise miteinander verbunden sein können.“
Aus den Sarkomeren zu beiden Seiten der Z-Scheibe dringen andere Moleküle in das Verbindungsband ein – nach Ansicht der Wissenschaftler könnte ein Teil dieser Verbindungen durchaus dem Muster von Titin und Telethonin folgen. Beide Teams werden nun nach neuen Beispielen dieser Art suchen. Mit dem Molekülkomplex in seiner endgültigen Zusammensetzung, dem Thema ihrer Forschungsarbeiten, decken die Forscher allerdings lediglich einen minimalen Teil des Muskelproteinriesen Titin ab, das Zehntausende von Aminosäuren beinhaltet. „Vermutlich werden wir Hunderte oder gar Tausende weiterer Wechselwirkungen finden. Eine der ersten haben wir entdeckt und sehen jetzt mit Spannung der Entdeckung vieler weiterer entgegen, die wahrscheinlich eine Menge Überraschungen für uns bereithalten“, resümiert Wilmanns. „Die Erforschung eines der komplexesten Systeme im Körper des Menschen hat mit unserer Arbeit erst begonnen.“
„Diese Arbeit macht auf wunderbare Weise anschaulich, wie die moderne Biologie Ansätze aus Zellbiophysik und Strukturbiologie miteinander kombiniert. Zudem eröffnet sie uns neue Wege auf der Suche nach den Zusammenhängen zwischen einigen Mutationen in Titin und Krankheiten“, ergänzt Gautel.
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