Allergien sind Volkskrankheiten – Ärzte müssen besser ausgebildet werden
Gespräch mit Professor Dr. Ulrich Wahn, Direktor der „Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie und Immunologie“ der Charité und derzeit Präsident des XXII. Kongresses der „Europäischen Akademie für Allergologie und klinischen Immunologie, (EAACI), zu dem vom 9.- bis 13. Mai 2001 fünftausend Teilnehmer aus aller Welt in Berlin erwartet werden.
Herr Professor Wahn, ist es wirklich gerechtfertigt, von einer wachsenden Allergisierung der Gesellschaft zu sprechen?
Die Zweifel, die einige von uns daran noch hatten, sind in den letzten fünf Jahren ausgeräumt worden. An steigenden Wohlstand ist die Zunahme allergischer Erkrankungen gekoppelt. Dies zeigt sich in allen Industrieländern und zunehmend auch in den Schwellenländern, z.B. in Südafrika. Allergische Erkrankungen sind inzwischen zu echten Volkskrankheiten geworden. Beunruhigend ist vor allem die steigende Zahl asthmakranker Kinder
Wieweit sind Infektionen Auslöser von Allergien?
Die Frage wird auf der Tagung kontrovers diskutiert werden. Auffallend ist, dass in bestimmten Altersphasen bestimmte Infektionen allergiefördernd wirksam werden. Bei Kleinkindern etwa beschleunigt die Infektion mit bestimmten Erregern (sogenannten RS-Viren) den Prozess der Allergisierung und kann in Asthma münden.
Andere Infektionen dagegen üben geradezu einen Schutzeffekt gegenüber Allergien aus. So haben wir an der Charité gefunden, dass Säuglinge, die im ersten Lebensjahr häufig Schnupfen haben, später seltener an Asthma erkranken. Aus Japan ist bekannt geworden, dass in Gegenden, wo Kinder vermehrt Kontakt mit Tuberkuloseerregern haben, weniger Allergien auftreten. Manche Experten meinen, dass das Immunsystem durch Infektionen so stimuliert wird, dass sich daraus ein Schutzmechanismus gegen die Entwicklung von Allergien ableitet.
Gibt es neue Erkenntnisse zum Einfluss der Psyche auf die Allergieentwicklung?
Die Neuroimmunologie untersucht das „Gespräch“ zwischen Nervenzellen und Zellen der allergischen Entzündung. Heute gibt es keine Zweifel mehr an einer wechselseitigen Beeinflussung dieser Zellen: Immunzellen geben Signale an das Nervensystem und dieses kann mit den ihm eigenen Überträgersubstanzen (Transmittern) auch Entzündungszellen aktivieren. Dazu liegen solide wissenschaftliche Daten bei Erwachsenen vor. Ob diese Effekte aber auch schon im Kindesalter wirksam werden, ist bisher unklar.
Verlieren sich Allergien auch wieder?
Das ist ein Prozess, der bis heute nicht richtig verstanden wird. Tatsächlich kann sich aber ein Zustand entwickeln, den die Experten als Toleranz (gegenüber dem früher allergisierenden Agens) bezeichnen. Toleranz zeigt sich besonders häufig bei frühkindlichen Nahrungsallergien (gegen Kuhmilch, Weizen, Ei oder Erdnüsse). Nachdem die Allergie das Schicksal dieser Kinder über 4, 6 oder 8 Jahre mehr oder weniger heftig geprägt hat, vertragen die Kinder in der Mehrzahl der Fälle einige Jahre später diese Substanzen wieder. Vermutlich handelt es sich um einen aktiven Lernprozess der Immunzellen. Wir glauben auch die dafür verantwortlichen Zellen zu kennen: bestimmte weiße Blutkörperchen, die sogenannten Th1-Lymphozyten. Aber noch ist manches an zellulären und molekularen Mechanismen unverstanden. Beim Erwachsenen bleiben die Nahrungsmittelallergien meist lebenslang bestehen. Den Zustand der Toleranz erreichen Erwachsene jedoch bei Allergien der Atemwege, etwa beim Heuschnupfen, dessen Symptome mit zunehmendem Alter abnehmen.
Bis zu 45 % der Deutschen glauben, dass sie eine Nahrungsmittelallergie haben. Tatsächlich sind es weniger als ein halbes Prozent? Wie erklärt sich das Missverhältnis zwischen Glaube und Tatsache?
Das hängt mit der hohen sozialen Akzeptanz von Allergien zusammen, Die Bereitschaft etwa über Nahrungsmittelallergien zu reden ist groß. Auch Untersuchungen der Charité haben gezeigt, dass es eine enorme Diskrepanz gibt zwischen dem Allergiebewusstsein eines Patienten und diagnostisch gesicherter Allergie.
Ist die echte Nahrungsmittelallergie korrekt festzustellen?
Man ist dabei auf die Kombination immunologischer Tests angewiesen. In der Kinderheilkunde sind diese Untersuchungen standardisiert, bei Erwachsenen wäre dies genauso nötig, es wird aber nur in Spezialeinrichtungen so gehalten. Auch das wäre eine take-home-message des Kongresses: Man tut gut daran, genau zu definieren und Allergie und Pseudoallergie auseinander zu halten.
Bei Allergieneigung sind Maßnahmen der Prävention (Meiden des Allergens, Einnahme von präventiv wirkenden Medikamenten (Chromoglyzinsäure) oder durch
Hyposensibilisierung) von großer Bedeutung. Gibt es neuere Ansätze?
Eine wissenschaftlich attraktive Spekulation setzt darauf, das kindliche Immunsystem durch gezielte bakterielle Exposition von der Allergieentwicklung abzuhalten. In der Fachzeitschrift „The Lancet“ ist vor drei Wochen beschrieben worden, dass Allergien bei einem Teil von Kindern verhindert werden können, wenn man Säuglinge mit bestimmten bakteriellen Antigenen (Bestandteile von Laktobazillen) in Kontakt bringt. Wir werden auf dem Kongress zu diesen Daten eine Pro und Kontra Sitzung haben, wo Anwälte und Skeptiker des Konzeptes sich publikumswirksam auseinandersetzen werden.
Den Patienten interessieren am meisten Fortschritte in der Therapie.
Was hat der Kongress zu bieten
Eines der Highlights dieser Tagung wird die neue Möglichkeit der Behandlung von Allergien verschiedener Art mit einem Antikörper (Anti-IgE) sein. Der Antikörper bindet das bei Allergikern überschießend produzierte Immunglobulin IgE. Die Wirksamkeit des Antikörpers ist unspezifisch, d. h. sie richtet sich sowohl gegen Nahrungsmittelallergien, als auch gegen Innenraum- und Außenluftallergien. Klinische Studien laufen in vielen Ländern. Bisher sind etwa 3000 Menschen über den begrenzten Zeitraum von etwa einem Jahr mit diesem Mittel behandelt worden Eine abgeschlossene Studie an der Charité, über die am Donnerstag und Freitag auf dem Kongress diskutiert wird, zeigt, dass die neue Therapiemöglichkeit zu großen Hoffnungen berechtigt.
Da Immunglobulin E schützend gegen Parasiten wirkt, darf es in Teilen der Welt (Entwicklungsländern), wo Parasiten verbreitet sind, nicht vermindert werden. Deshalb ist bisher auch unklar, ob der neue Antikörper in solchen Ländern eingesetzt werden kann.
Haben wir in Deutschland genügend Ärzte – auch im Bereich der niedergelassenen- die etwas von Allergie und Immunologie verstehen und die neuen Erkenntnisse schnell umsetzen können?
Es gibt in Deutschland so viele allergologisch vorgebildete Ärzte wie in keinem anderen europäischen Land. Auch stehen wirksame Medikamente in ausreichender Menge zur Verfügung. Aber selbst bei vorsichtiger Schätzung muss man davon ausgehen, dass ein Drittel der Bevölkerung an Allergien leidet. Bei dieser großen Zahl von Erkrankten ist nicht immer gewährleistet, dass sie frühzeitig auch anti-allergisch behandelt werden, nicht nur anti-infektiös.
Die Botschaft des diesjährigen Kongresses ist deshalb auch: Die Ausbildung an den Hochschulen muss intensiviert werden, den Medizinstudenten muss ausreichendes Rüstzeug mitgegeben werden zur Diagnose und Behandlung der „Volkskrankheit Allergie“. Jeder Arzt muss die allergischen Frühsymptome erkennen können. Das darf man nicht dem Allergologen überlassen. Man muss es vom Hausarzt erwarten.
Herzlichen Dank.
(Die Fragen stellte Silvia Schattenfroh)
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Pressereferat-Forschung
Dr. med. Silvia Schattenfroh
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